Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Leinenhut auf. Die Frau zuckte zusammen, erwachte, lächelte aber, als sie die Kinder erblickte. Quer über der Krempe ihres Sonnenschutzes stand » HUD « in krakeliger Schrift.
Sandro kommt in die Schule … , dachte Carina. Und kann bereits schreiben, unglaublich!
Um der Frau die Kekse zu ersetzen, reichte Clemens ihr einen Fünf-Euro-Schein. Sie lehnte ab, es sei doch nicht schlimm und die Kekse seien sowieso noch von Weihnachten. Sie habe sie für die Enten mitgenommen.
Mit einer Entschuldigung zerrten sie die Kinder schließlich fort.
»Warum hast du auf den Hut von der Frau was draufgeschrieben?«, fragte Carina Sandro, als sie weit genug weg waren.
»Damit sie ihn gleich findet, wenn er ihr wieder runterfällt.« Er gab ihr den Folienstift zurück. Carina lachte.
Clemens blieb ernst. »Findest du das etwa richtig? Du willst ihm das jetzt einfach so durchgehen lassen?« Becky hustete, sie hatte sich verschluckt. Er klopfte ihr auf den Rücken, bis sie einen Keksbrocken ausspuckte.
»Wieso, was soll ich denn tun?«
»Du musst ihm doch irgendwie verklickern, dass das so nicht geht.«
Langsam ging ihr Clemens auf die Nerven. »Soll ich ihn ausschimpfen, bestrafen und dann zu Hause einsperren?« Carina musterte ihn. »Was schlägst du denn vor?«
»Natürlich nicht, was denkst du von mir? Ich finde nur deinen Erziehungsstil bedenklich. Du bist doch sein Vorbild. Er hat die Kleidung von anderen Leuten zerstört, und du lachst einfach nur?«
Carinas gute Laune war verflogen. »Deine Tochter hat Entenfutter geklaut, zählt das etwa nicht?«
Clemens seufzte. »Es ist sicher schwer, Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Sieht dein Sohn seinen Vater noch?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Also, Beckys Mama und ich, wir haben das im Griff.« Mit dem Hemdsärmel wischte er seiner Tochter die Spucke ab. »Es ist sehr wichtig, dass die Eltern trotz allem … «
»Dann kriech doch einfach wieder zu deiner Ex ins Bett.« Carina hatte seine Belehrungen satt. Was ging es ihn an, wie sie oder jemand anders Sandro erzog?
»Jetzt sei nicht eingeschnappt.« Clemens stellte Becky ab und strich Carina eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Hand roch nach Zimtspucke. »Wer will das größte Eis?«, rief er, und die Kinder kreischten los.
Sie kauften das Eis an einem Wagen, den ein Mann per Rad durch den Englischen Garten karrte. Becky verlangte drei Kugeln »Familieneis«.
Einen Versuch gebe ich ihm noch, dachte Carina, als sie sich auf die Wiese setzten und im Wettlauf gegen die Sonne ihr Eis vertilgten.
»Schaut mal, da will jemand ein Stück Waffel von uns.« Carina hatte eine Maus entdeckt, die aus einem Erdloch lugte. Clemens sprang auf und klopfte sich die Hose ab, als hätte ihn das Tierchen angenagt.
Carina lachte. »Du hast doch nicht echt Angst vor Mäusen, oder?« Als sie kurz nach ihrem Kennenlernen in der Nacht auf dem Ostfriedhof gewesen waren, hatte sie sein Erschrecken für einen Scherz gehalten.
»Angst nicht direkt, die sind nur so krabbelig, diese Viecher. Deshalb bin ich auch Veterinär für Großvieh geworden, kein Kleintierarzt.«
»Wir fangen sie ein und tragen sie weg«, schlug Sandro vor. Mit der restlichen Waffel voran, krochen Becky und er wie zwei Spurensucher über die Wiese, auf der Suche nach Löchern. Als Clemens nun aus seiner Hemdtasche ein kleines Kästchen zog, dachte Carina zuerst, er wollte eine Beruhigungstablette einwerfen.
»Hier, für dich, hab ich auf einem Markt entdeckt.«
»Äh, besser nicht.« Wenn es das war, was sie dachte, wollte sie es lieber nicht öffnen. Sie trug nie Schmuck, weil er sie bei der Arbeit behinderte, aber seit sie dem Autowrack entkommen war, schnürte ihr allein die Vorstellung, eine Kette oder einen Ring zu tragen, die Kehle zu.
»Bitte, mach’s auf.« Er legte den Arm um sie, was ihre Gänsehaut nur verstärkte. Widerwillig öffnete sie das Kästchen, eine schwarzweiße Vogelfeder lag darin, an ein Lederband geknüpft. Das ging einigermaßen, Silber- oder Goldschmuck wäre schlimmer gewesen.
»Für die Elster, hab ich mir gedacht.« Er küsste sie.
Sie erwiderte den Kuss kaum, schob das Kästchen mit einem knappen Danke in die Umhängetasche und sah sich nachden Kindern um, die wie zwei Katzen dahockten undins Gras starrten. »Warum sagt Becky Familieneis statt Vanille?«
Er lachte. »Das hat sie selbst erfunden. Schon faszinierend, wie Kinder sprechen lernen. Ich hab das ausprobiert und ihr bestimmte Wörter anders vorgesagt, weil
Weitere Kostenlose Bücher