Die Verstummten: Thriller (German Edition)
klackerte ihr schon im Treppenhaus auf ihren High Heels entgegen, einen langen, großmaschig gehäkelten Schal hinter sich herschleifend. »Der ist gerade noch fertig geworden.« Sie verkettete die letzte Luftmasche, biss die Topflappenwolle durch und zog den Restfaden durch die Schlaufe. Als sie sich den Schal um den Hals schlang, wischte sie Carina die Quasten ins Gesicht. Ihr Busen in einem engen Top war dennoch kaum bedeckt. Wanda drückte ihr Häkelnadel, Wollknäuel und Schlüssel in die Hand.
»Wo musst du eigentlich hin?«, fragte Carina.
»Nick ist für zwei Stunden am Flughafen, Zwischenlandung sozusagen.« Sie grinste. »Ich bin um neun wieder da, versprochen.« Vier bis neun, das waren mehr als zwei Stunden. Mit Zahlen und Rechnen hatte es Wanda nicht so. »Danke«, flötete sie noch, warf die Haustür hinter sich zu und klemmte dabei fast ihr neuestes Häkelwerk ein.
Sandro rührte sich nicht, als Carina die Wohnungstür aufsperrte. Von irgendwo hörte sie Rascheln und Kichern, aber sie sah ihn nicht. Immer wieder vergaß sie, dass ihre Schwester alles Mögliche hortete, und es kostete sie einiges an Überwindung, zwischen Kartons und Kleiderstapeln, unter staubigen Schränken und Häkeldecken nach ihrem Neffen zu suchen. »Wo ist denn nur der … «, rief sie laut und öffnete den Küchenschrank, nachdem sie einen Kasten Limo und eine Tüte Katzenstreu zur Seite geräumt hatte. »Wie heißt er gleich, jetzt hab ich den Namen vergessen, Simon, nein, Sebastian, irgendwas mit ›S‹.«
»Sandro«, tönte es hinter dem großen Drehspiegel im Wohnzimmer, der mit Wandas Schmuckstücken vollgehängt war. »Hatschi-buuuh!« Sandro sprang hervor, hatte sie erschrecken wollen, nieste stattdessen, verhedderte sich in einer Kette und stolperte. Carina fing ihn auf und drückte ihn an sich.
»Na, Hatschibuh-Ferienkind, passt ein Eis irgendwo bei dir rein?« Sie kitzelte ihn. Sandro wand sich vor Lachen und versuchte sie ebenfalls zu kitzeln. Plötzlich hielt er inne und betrachtete sie aus großen braunen Augen.
»Ein Ohr und … dreh dich zur Seite.« Carina tat, was er verlangte. »Und noch eins. Eins, zwei Augen, zwei Arme, zwei Beine. Hast du noch alle Zehen?«, fragte er.
Sie schlüpfte aus den Schuhen und zeigte sie ihm. »Kannst du schon bis zehn zählen?«, fragte sie.
»Sogar bis neunzehn.«
»Na, dann los.« Als er zweimal bis fünf gezählt hatte, verfinsterte sich sein Blick. »Mama hat gelogen. Du bist gar nicht halb, nur krustig.« Er zeigte auf die Schürfwunde an ihrem Arm. »Oder fehlt was an dir, unter dem Kleid drunter, was ich nicht sehen kann?«
So konnte man es auch bezeichnen, irgendwas fehlte an ihr, dachte Carina. Dann wurde es also doch besprochen in der Familie, nur sie durfte nicht daran teilhaben. »Deine Mama meint damit, dass Silvia, also Oma, nicht meine richtige Mama ist, deshalb sind deine Mama und ich nur Halbschwestern. Verstehst du?«
Sandro schüttelte den Kopf.
»Opa Matte ist mein richtiger Papa, aber meine Mama, die mich zur Welt gebracht hat, ist eine andere Frau, die ich auch noch nicht kenne, weil ich damals ganz klein gewesen bin, als sie mich weggegeben hat.«
Sandro wickelte sich beim Zuhören ihre Haare um dieFinger, bis es ziepte. »Ist deine Mama da, wo mein Papa ist? Aufder Insel mit den brennenden Bergen? Mein Papa angel t Fische in der glühenden Lava, das sind dann Goldfische.«
Ihrem Neffen wurde also auch was vorgemacht. Sein Vater, ein Schmuckverkäufer aus Lanzarote, wusste nichts von seinem sechsjährigen Sohn. Sandro klappte den Mund auf und zu. »Fische können nicht reden, weil ihnen immer das Wasser in den Mund läuft.«
Am Chinesischen Turm war stets eine Menge los, aber mit so viel Betrieb hatte Carina nicht gerechnet. Sie lehnte Silvias Rad mit Sandros Kinderrad an einen Baumstamm und sperrte sie zusammen. Ganz München samt Touristen aus aller Welt schien sich unter den schattenspendenden Kastanien zu tummeln. Wie sollte sie Clemens da überhaupt finden? Sie spähte über die Biertische zu den langen Schlangen der Essensausgabe am Turm.
»Da können wir hin.« Sandro hatte ein paar Zentimeter freien Platz zwischen den Leuten auf einer Bierbank entdeckt. »Ich setz mich auf deinen Schoß.«
»Wir müssen noch jemanden finden, einen Tierarzt.«
»Der ist bestimmt bei dem Strauß.« Sandro rannte los und zog Carina mit sich.
»Was für ein Strauß?«
»Das ist ein großer Vogel, keiner aus Blumen, obwohl sein Schwanz wie ein
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