Die Verstummten: Thriller (German Edition)
hier raus, so schnell wie möglich.«
Ausziehen, nicht schon wieder! Seit dem ersten Tag, als ihre Schwester hier eingezogen war, hatte sie woanders hingewollt. Eine kaputte Heizung, Schimmel an den Wänden, undichte Fenster und kein Kabelfernsehen. Unzählige Male, seit Wanda hier wohnte, hatte sie sich mit dem Vermieter angelegt und jedes Mal beschlossen, sich nach einer anderen Wohnung umzusehen, bevor der sie rausschmiss, was er angeblich jedes Mal androhte. Aber bestimmt beruhigte sich alles wieder. Carina konnte es jedenfalls nur hoffen. Drei Zimmer, bis unter die Decke vollgestellt, zu diesem Mietpreis, mitten in München, würde sie nicht so schnell finden. »Warum hast du denn nie was zu mir gesagt?«
»Hab ich doch!« Wanda musterte sie.
»Nein, ich meine das mit den Halbschwestern.«
»Weil ich es als Kind nicht kapiert habe. Eigentlich schade.« Sie grinste. »Ich hätte das so gut ausnützen können, wenn du fies zu mir warst.« Wanda wischte sich Tränen und Schweiß aus dem Gesicht.
»Du übertreibst, ich war nicht fies.« Carina goss sich auch einen Tee ein.
»Sag bloß, du hast vergessen, wie du mir den Bleistift in den Bauch gerammt hast?«
»Was, ich?« Thor knetete genüsslich die Decke und rollte sich schließlich schnurrend zwischen den beiden Schwestern ein.
»Und wie du mit den alten Spritzen an mir rumexperimentiert hast? Wenn Mama nicht dazugekommen wäre, wäre ich jetzt garantiert HIV -positiv. Du wolltest immer perfekt sein, aber wenn’s nicht geklappt hat, hast du deinen Frust an mir ausgelassen.«
Carina war sprachlos. All das hatte sie vollkommen verdrängt. Ganz schwach sah sie noch vor sich, wie sie den Bleistift spitzte und spitzte und dann in die nervige Wanda stach, als wäre sie ein Luftballon, der nur zum Schweigen gebracht werden konnte, wenn er platzte. Und das mit den Spritzen, die sie beim Spielen in Nachbars Mülltonne gefunden hatten, wusste sie zwar noch, aber dass es lebensgefährlich gewesen war, hatte sie vergessen. Tatsächlich war da noch dieses Gefühl, über die kleinere Schwester bestimmen zu können. Diese Macht, die sie gehabt hatte, und die Wut, die damals schon in ihr keimte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Bitte verzeih mir.«
»Einverstanden. Wenn du mir mit dem Umzug hilfst.« Carina lachte und nickte. Klar würde sie ihr helfen, aber Wanda würde bestimmt in hundert Jahren noch hier wohnen.
»Fein.« Sie umarmten sich. »Meistens hat es mir gefallen, so eine ernste große Schwester zu haben, es gefällt mir immer noch und heute ganz besonders, in diesem schönen Kleid.« Sie lächelte Carina an. »Probier doch mal meinen Schal dazu. Wo liegt der denn? Ach, Mist, den habe ich bei … « Sie holte von tief innen heraus Luft, ihr Atem zitterte. »Du hast schon immer alles so durchdacht und auf mich aufgepasst. Weißt du noch, wie du mich verteidigt hast, gegen Robert aus der Vierten? Den hast du ganz schön vermöbelt.«
Wanda reimte sich mal wieder was zusammen, Carina hatte doch nie einen Jungen verprügelt! Obwohl … dunkel blitzte etwas auf. »War das der, der sich über deinen Häkelrekord lustig gemacht hat?«
Wanda nickte. »Ich war so stolz, dass endlich auch mal was über mich in der Zeitung stand, nicht immer nur über unsere tollen Eltern. Also bin ich mit dem Zeitungsausschnitt zur Lehrerin vor, und die hat es laut vor der ganzen Klasse vorgelesen. Einmal ums Rathaus herum häkeln wäre leicht, hat Robert gesagt, aber um meinen Bauchumfang herum, das würde keiner schaffen.«
»Ach, der war das. Hat der nicht auch seine Mitesser im Klassenzimmer herumgeschossen?« Sie lachten.
»Nur wenn Mama uns zusammen in ein Zimmer sperrte, weil wir gestritten haben und sie sich nicht mehr zu helfen wusste, da hatte ich Angst vor dir.« Wanda wurde wieder ernst.
»Angst?« Carina staunte. Ihre Schwester hatte noch nie von ihrer gemeinsamen Kindheit gesprochen. Vielleicht hatte sie tatsächlich Fieber.
»Deshalb hast du immer so lange geschrien, bis Silvia wieder aufsperrte.«
»Ich hab gedacht, du tust mir was an, schlimmer als alles, was ich mir vorstellen konnte, schlimmer als das mit dem Stift, bei dem die Spitze abgebrochen ist. Weil du dann so wie deine richtige Mutter wärst, weil … «
Sandro kam zu ihnen herüber. »Kann ich den Stift von vorhin noch mal haben?«
»Nur wenn du keine Hüte mehr beschriftest.« Carina reichte ihm ihre Tasche, Sandro kramte darin herum und blieb bei ihrem Skizzenbuch hängen. Er breitete es auf
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