Die Verstummten: Thriller (German Edition)
dem Plastikband lugten unten heraus, das sah sie im Spiegel, wenn sie ein ganz kleines bisschen an der Schranktür vorbeispähte.
Montag
Einundsiebzig Stunden nach dem Ursprung
Ich bin eine Spinne
und spinne und spinne
und singe ein Lied
vom Abschied.
Mein armer Mann ist tot,
ich fraß ihn gestern
zum Abendbrot.
Sandro Kyreleis
47.
In der Bibliothek, wo sie immer ihre Montagssitzungen abhielten, baute Frau Schauer zur Morgenbesprechung ein Frühstücksbüfett auf. Neben einer Käse- und Schinkenplatte dufteten Semmeln, Brezen und Croissants. Es gab verschiedene Säfte, süße Aufstriche, Butter und Obst, und auch die Zeitung mit der Schlagzeile von Floras Verschwinden – »Neunjährige Tochter von ermordetem Ehepaar spurlos verschwunden« – lag auf dem Tisch.
»Wer hat das spendiert?«, fragte Carina, als sie im Institut eintraf.
»Die Chefin«, erklärte Frau Schauer und schnitt eine Melone in Scheiben. »Sie sollen es sich schmecken lassen.« Doch solange das Korbsofa der Professorin leer blieb, wagte keiner zuzugreifen. Eine Woche mit neuen Aufgaben stand ihnen bevor. Nachts hatte Carina noch über die Teppichzeichen, die Sandro so selbstverständlich gedeutet hatte, gegrübelt. Rote Armee Fraktion, was sollte das bedeuten, wieso ritzte Olivia Loos das in ihrer Todesstunde in den Teppich? Hatte die RAF etwas mit ihrem Tod zu tun? Absurd, diese Terrorgruppe gab es doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Womöglich sogar noch länger, denn es war äußerst fraglich, dass sie für die letzten ihr zugeschriebenen Attentate verantwortlich war. Musste Olivia Loos sterben, weil sie als Journalistin in etwas Brisantem gewühlt hatte und die Geheimdienste auf sie aufmerksam geworden waren? Wer mordete heute noch, um ein Geheimnis der RAF zu vertuschen?
Doch so schwer die Gedanken nachts im Halbschlaf zu bändigen waren, ihr Job war getan, und sie würde vielleicht nie, außer aus der Zeitung, erfahren, wie die Ermittlungen verliefen und ob sie Flora gefunden hatten.
Susanne Schmetterer begrüßte Carina und setzte sich neben sie. »Die chemisch-toxikologische Untersuchung hat keinen Nachweis von Alkohol, Medikamenten oder Betäubungsmitteln bei dem Ehepaar Loos ergeben. Ich habe das Ergebnis gerade ans Präsidium gefaxt.« Sie zeigte mit einer großen Geste über den gedeckten Tisch. »In Olivias Magen habe ich übrigens Orangensaft, Kaffee und Croissant gefunden. In Jakobs Magen waren Milch, genauer gesagt Kakao und Getreidereste, wahrscheinlich von Müsli. Das Frühstück als Henkersmahlzeit.«
Fast unbemerkt hatte sich Dr. Herzog hereingeschlichen. Er schloss leise die Tür und schob sich zwischen der Wand und den Rückenlehnen bis zu einem freien Stuhl durch. Durch das enge, kurze Shirt zeichneten sich seine Rippen ab, vielleicht hatte er ein Oberteil seiner Kinder erwischt, sein Bauch schien wie bei einer Biene den Oberkörper mit dem Unterleib nur noch notdürftig zu verbinden, so dünn war er geworden.
Sofort wurde die Tür wieder aufgerissen, und Professor Feininger, in einem geblümten Seidenzelt, rauschte herein, griff sich ohne Gruß die Karaffe mit Karottensaft, schenkte sich ein und kippte den Inhalt herunter, als wäre sie am Verwelken gewesen. Hastig bestrich sie sich ein Croissant mit Schokoladencreme und verschlang es. Halb im Stehen, über den Tisch gebeugt wischte sie sich mit dem Titelblatt eines Aktenstapels anstelle einer Serviette übers Gesicht. »So.« Sie wuchtete sich in das Korbsofa an der Stirnseite des ovalen Tisches, das ihren Hintern knirschend begrüßte. »Guten Morgen zusammen.«
Wie nach dem Gongschlag zur ersten Schulstunde kam Bewegung in die Runde. Susanne goss Carina und sich Kaffee ein.
»Ich komme gleich zur Sache.« Die Chefin schleckte sich die Finger ab. Die Druckerschwärze hatte ihr um die Mundwinkel ein Dauergrinsen ins Gesicht gezaubert. »Wie ich höre, haben Sie sich alle hinter meinem Rücken Gedanken über mein Privatleben gemacht. Aber viel wichtiger, als mit wem ich pudere … «
Susanne verschluckte sich und sprühte Kaffee über den Tisch. Carina klopfte ihr auf den Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Die Chefin fuhr unbeeindruckt fort. »… ist doch die Frage, warum wir zurzeit kaum Obduktionen hereinbekommen. Tote gibt es nach wie vor, nur reißt die sich regelmäßig einer meiner Ex-Kollegen, Arno Strunkholz, unter den Nagel. Er hat sich mit einigen ehemaligen Uni-Mitarbeitern am Waldfriedhof in einer neu gegründeten
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