Die Verstummten: Thriller (German Edition)
vielleicht wäre Carina überhaupt nicht erwachsen geworden. Aber trotz allem lief ein Film in ihr an, sobald sie an ihre Tochter dachte, morsch und knisternd, an den Rändern zerfranst. Ein alter Super-8-Film, wie sie in den Achtzigerjahren in den meisten Familien gedreht wurden. War da, in ihrem Gedächtnis, nicht sogar eine Fliege im Bild, wie die, die sie in der Rohweddervilla abgeschossen hatte? Bilder, die sie nie gesehen hatte, liefen in ihrer ganz privaten Vorstellung. Das langsame Aufrichten, als Carina zum Krabbeln aufhörte und stehen konnte, die ersten Schritte, das Ausblasen der Geburtstagskerzen, wie sie Fahrrad fahren lernte und schwimmen. Staunende Augen, versunkenes Spiel, das stumme Lächeln, Tränen, die getrocknet, Pflaster, die auf Blasen an den Zehen geklebt wurden, gemeinsame Purzelbäume einen Abhang hinunter. Vielleicht gab es reale Fotos davon, in Mattes Familie, in der ihre Tochter aufgewachsen war. Sie würde es nie erfahren.
Manchmal beschlich sie der Gedanke, dass ein ominöser Kinovorführer diesen Film ganz gezielt in ihr Unterbewusstsein einlegte. Besonders wenn sie hungrig war und nichts zu essen in der Nähe hatte. War das der Gott, an den sie zuletzt als kleines Mädchen geglaubt hatte? Damals hatte sie sich noch die Finger wund gebetet, damit ihre Mutter wieder gesund wurde. Und als sie trotzdem gestorben war, hatte sie aufgehört zu glauben. Von Jahr zu Jahr hoffte sie, dass nach dem Tod einfach nichts mehr kam, man sich auflöste und nicht mehr denken musste.
Mit der Gottesfrage wurde sie in ihrem neuen Beruf tagtäglich konfrontiert. »Frau Schwalbe, glauben Sie, dass unser Papa nun bei Gott ist?« Aus Geschäftsgründen log sie jedes Mal. Eine Bestatterin musste offiziell an ein Weiterleben nach dem Tod glauben: ohne Hoffnung keine Beerdigung. Das Bestatterethos duldete alle Religionen. Alles, was die Trauer linderte, den Abschied leichter machte und die Würde des Toten nicht verletzte, war erlaubt. Das hatte sie damals auch am alten Schwalbe, ihrem Schwiegervater, fasziniert. Edgar sah die Dinge klar und konkret. So war es, und so wurde es gemacht. Nichts wurde zergrübelt oder durchdiskutiert. Wenn jemand Hilfe brauchte, dann half er. Ob er einen Obdachlosen gratis einsargte, einem Millionär die Berührung seines verstorbenen Sohns ermöglichte, mit dem er seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, oder ob er einer Fremden, die er Gloria nannte, Unterschlupf gab. Vor dem Bestatter waren alle gleich, das war sein Lebensmotto und seine Geschäftsidee gewesen. Schwalbe für alle.
Sie starrte auf eine Amsel, die im Waldboden scharrte. Lange hatte sie mit sich gerungen, ob sie sich an Matte wenden sollte. Was, wenn sie plötzlich vor seiner Tür stünde, wie würde er reagieren? Ein warmes Gefühl durchströmte sie, wenn sie an ihn dachte. Das letzte Mal, als sie miteinander sprachen – das war ebenfalls zwanzig Jahre her – , hatte er den Kontakt abgebrochen. Kein Wunder, sie hatte seine Liebe mit Füßen getreten. Die Beziehung zu Michael Schwalbe glich eher einer Zweckgemeinschaft. Er behauptete sie zu lieben, und vielleicht tat er das auch, und es lag nur in ihrer von Grund auf misstrauischen Natur, dass sie es ihm nicht abnahm. Bei einer gefühlskalten Frau, wie sie eine war, gefror sogar der Totenwäscher im Bett neben ihr. Nachts hörte sie Michael manchmal neben sich, wie er sich selbst befriedigte. Einmal, als ihm auffiel, dass auch sie wach lag, bat er um ihre Hand, sie sollte sie ihm nur auf den Kopf legen, weiter nichts.
Sie wusste aber auch, dass er sich mit anderen Frauen traf, und ignorierte die Belege für Essen und Hotelrechnungen, die er hin und wieder unter die Abrechnungen der Kundengespräche schmuggelte. Gerade machte er Elena, der dreißigjährigen Azubine zur Bestattungsfachkraft, den Hof. Sie hatte die Berührungen bemerkt, wenn Michael der jungen Frau die Handgriffe im Umgang mit den Toten erklärte. Es erinnerte sie an die Zeit, da sie selbst als Gloria in die Schwalbe-Familie aufgenommen worden war. Die Ehe perfektionierte ihre Tarnung, dafür nahm sie seine Seitensprünge in Kauf. Er bezahlte mit seinem Namen, beschützte sie mit der Schwalbe-Bestatterdynastie und löschte so ihre Vergangenheit aus. Ihre ersten Ehejahre hatte sie auch fast als Glück empfunden, sie fühlte sich als Gloria Schwalbe, wenn sie morgens erwachte. Ihre Legende war ein Teil von ihr geworden, und sie selbst glaubte daran. Bis vor ein paar Monaten, als Calimero sie im
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