Die Versuchung
tun, was du willst, und jetzt ganz aufmerksam sein, wenn du der Mama nichts sagst.“
„Du hast also sehr gut verstanden und weißt, was ich ihr sagen will?“, fragte er streng.
„Ja, sicher … Du willst ihr sagen, dass ich nicht mit dir über die Möbel sprechen wollte und … dass ich stattdessen zugesehen habe, wie Isabelle mit einer Dochtschere spielt und … und wie Herr Hamilton den Fuß auf den Ofen gelehnt hat … statt dir zuzuhören.“
Diese scheinbar völlig naive Antwort ließ den Argwohn des Majors im Nu schwinden. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, setzte sich wieder zu Sophie an den Tisch und bat um Verzeihung für sein Misstrauen und seine Heftigkeit. Ihre offenkundige Verlegenheit schrieb er ihrer Jugend und ihrer natürlichen Schüchternheit zu. Teils aus Eifersucht wegen des Blicks, mit dem Hamilton vorhin ihre Schwester angesehen hatte, teils aus Scham über ihre eigene Schauspielerei, brach Sophie in Tränen aus, und der Major, der sich schuldig fühlte, schwatzte eine Menge Unsinn, um sie zu beruhigen und wieder auf andere Gedanken zu bringen.
Unterdessen sagte Isabelle mit sanftem Spott zu Hamilton: „Sie müssen ein französisches oder englisches Buch gelesen haben, unsere deutschen Buchstaben wären so weit vom Licht entfernt nicht zu erkennen.“
„Ich habe einen Roman von Jane Austen gelesen, er ist sehr interessant.“
„Wirklich? Ich wünschte, Sie würden ihn mir ausleihen.“
„Können Sie tatsächlich Englisch? Sie haben nie ein Wort in dieser Sprache mit mir gesprochen.“
„Halten Sie das für unmöglich?“, fragte Isabelle lächelnd.
„Nicht für unmöglich – Sie sprechen ausgezeichnet Französisch, ganz sicher haben Sie ein Talent für Sprachen. Vermutlich können Sie Englisch und haben es mir einfach verschwiegen.“
„Ich kann kein Wort in dieser Sprache sprechen.“
„Aber Sie verstehen Englisch, wenn es gesprochen wird?“
„Kein Wort.“
„Darf ich dann fragen, was Sie mit diesem Roman zu tun gedenken, wenn ich ihn Ihnen leihe?“
„Ihn früh am Morgen bis sieben Uhr und nachts, so lange mein Licht brennt, lesen“, antwortete sie, indem sie das Buch nahm und aufmerksam das Titelblatt ansah.
„Wenn Sie dieses Buch lesen und verstehen können, dann müssen Sie auch in der Lage sein, zumindest ein paar Sätze zu sprechen“, sagte Hamilton.
„Ich versichere Ihnen, ich kann Englisch weder sprechen noch verstehen, wenn ich es höre, und doch könnte ich diesen Roman, wenn Sie ihn mir leihen würden, ebenso gut lesen, als ob er auf Französisch oder auf Deutsch wäre.“
„Sie müssen einen sonderbaren Lehrer gehabt haben.“
„Ich habe gar keinen Lehrer gehabt – die Mama hat keinen Wert darauf gelegt, dass ich Englisch lerne. Sie wollte kein Geld für einen Lehrer ausgeben. Deshalb bat ich den Papa, mir eine Grammatik und ein Wörterbuch zu kaufen, lieh mir in der Schule englische Bücher aus und lernte so, diese Sprache zu lesen.“
„Was für eine Beharrlichkeit!“, rief Hamilton mit unverhohlener Bewunderung.
„Manche Leute würden es Sturheit nennen“, antwortete Isabelle lachend. Sie hielt immer noch das Buch in der Hand und er sagte: „Sie können es behalten, wenn Sie möchten.“
„Aber Sie haben es noch nicht durchgelesen. Es gibt doch nichts Unangenehmeres, als einen Roman abzugeben, ehe man weiß, wie er endet.“
„Ich bin oft bis vier Uhr morgens aufgeblieben, um ein spannendes Buch fertig zu lesen“, sagte Hamilton.
„Es muss sehr angenehm sein, nachts Licht zu haben, solange man will. Die Mama spart sehr an ihren Lichtern und gibt mir nur alle drei Tage eine neue Kerze. Sie erzählt mir immer, dass es schlecht für die Gesundheit und die Augen ist, wenn man spät ins Bett geht und häufig bei Kerzenschein liest.“
„Ich kann Ihnen so viele Kerzen geben, wie Sie möchten“, bemerkte Hamilton.
„Das habe ich nicht gemeint“, sagte Isabelle zögernd. „Die Mama hat sicher recht, dass es nicht gesund ist … Ich habe sie zum Papa auch sagen hören, dass sie, wenn Sie ihr Sohn wären, jeden Abend um zehn Uhr in Ihr Zimmer gehen und das Licht löschen würden.“
„Ich hätte sie schon aus diesem Grund nicht gerne als Mutter“, lachte Hamilton, „sie wäre vermutlich sehr streng mit mir. Allerdings wären Sie in diesem Fall meine Schwester, und gegen eine solche Verwandtschaft hätte ich nichts einzuwenden.“
„Sie haben eine Schwester?“, fragte Isabelle.
„Ja, und
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