Die Versuchung
werde mir untreu, als ich hörte, dass er jetzt täglich hierher kommt. Männer können ja sehr wankelmütig sein.“
„Du denkst doch wohl nicht, dass ich ...“
„Natürlich nicht, Sophie! Du bist verlobt, an dich habe ich nicht gedacht, aber Isabelle ...“
„Ich bin mir sicher, dass sich Isabelle überhaupt nicht für ihn interessiert“, rief Sophie triumphierend.
„Und er sich nicht für sie“, sagte Olivia, „er hält sie nicht einmal für besonders hübsch.“
„Also das überrascht mich! Ich habe noch nie gehört, dass jemand Isabelle nicht hübsch findet. Ihr Bild ...“
„Ich weiß, meine Liebe. Aber Schönheit ist Geschmackssache. Theodor findet sie zu perfekt, fast wie eine Statue, und auch zu stolz. Kurz, er sagt, sie ist eine Frau, die ein Mann bewundern, aber nicht lieben kann.“
„Ich möchte wirklich wissen, ob mich die Ehe genauso verändern wird wie dich, Olivia“, sagte Sophie etwas unwillig. „Du hast früher ganz anders geredet.“
„Ich bin eben jetzt erwachsen … Aber sag, wo sind Isabelle und Herr Hamilton?“
„Aber das weißt du doch wohl – sie haben jetzt Unterricht.“
„Aber wo?“
„In Herrn Hamiltons Zimmer.“
„Dann lass uns dort hingehen.“
„Das geht nicht. Die Mama hat mir verboten, das Zimmer von Herrn Hamilton zu betreten.“
„Aber du bist jetzt nicht allein – und wenn Isabelle dort sein darf, kann es für uns auch nicht unpassend sein.“
Mit diesen Worten zog Olivia die widerstrebende Sophie hinter sich her und klopfte wenig später an die Tür. Niemand antwortete.
„Was für merkwürdige Geräusche sie machen!“, rief Madame Berger, als sie ihr Ohr gegen die Tür presste. Als auf ihr erneutes Klopfen keine Antwort kam, öffnete sie einfach die Tür und sah zu ihrem Erstaunen, dass Hamilton und Theodor mit Fechtmasken und Rapieren ausgerüstet waren und fochten. Stühle und Tische waren in einer Ecke des Zimmers zusammengeschoben worden, und die beiden Fechter waren so in ihren Kampf vertieft, dass sie die Besucherinnen gar nicht bemerkten.
„Das ist eine ganz neue Art, deutsche Literatur zu studieren“, sagte Olivia zu Isabelle, die mit einem Buch am Fenster saß.
„Der Unterricht ist längst zu Ende“, antwortete sie.
„Warum bist du dann nicht drüben im Salon?“
„Weil es hier ruhiger ist.“
„Ruhiger? Nennst du diesen Lärm ruhig? Ich könnte kein Wort lesen, wenn ich dieses Degengeklirre höre.“
„Es sind nur Rapiere, sie sind nicht scharf, und ich habe mich daran gewöhnt.“
Jetzt erst bemerkten die beiden Kontrahenten, dass sie nicht länger zu dritt waren.
„Ihr Pferd ist gesattelt“, rief jemand mit lauter Stimme im Korridor.
„Oh, versprechen Sie uns, in der Straße auf und ab zu reiten“, sagte Madame Berger zu Hamilton, „ich sehe Pferde so gern. Komm, Sophie, wir wollen aus dem Fenster sehen.“
Als Hamilton mit dem Pferd vor dem Haus stand und bemerkte, dass er im dritten Stock offenbar sehr interessierte Zuschauerinnen hatte, bat er seinen Reitknecht, das Pferd einige Male auf und ab gehen zu lassen, während er mit gekreuzten Armen zusah. Dann stieg er auf und ritt langsam davon.
„Haben Sie mir nicht gesagt, er sei ein ausgezeichneter Reiter?“, wandte sich Madame Berger an Theodor.
„Das ist er ganz sicher, aber er scheint es nicht zeigen zu wollen.“
„Es wäre auch höflicher gewesen, wenn er zuhause geblieben wäre, um uns zu unterhalten. Es wird bald regnen und er wird sicher nass werden.“
„Es stört ihn nicht, wenn es regnet“, sagte Sophie. „Er geht selbst dann aus dem Haus, wenn es Bindfäden regnet. Angeblich regnet es in England oft tagelang.“
„Sieh mal, Sophie“, sagte Olivia leise und deutete nach unten auf die Straße, wo ein Offizier vor einem Schaufenster stand und zu ihrem Haus hinüber blickte.
„Ich möchte zu gerne wissen, wer er ist? – Kennen Sie den Offizier, Theodor?“
„Nein, aber vielleicht kennt er Sie“, antwortete er lachend.
„Ich kann es verstehen, dass er zu unserem Fenster hinaufblickt“, sagte sie kokett, „er hat gewiss noch nicht oft gleich drei so hübsche Gesichter auf einmal gesehen“, wobei sie versuchte, Isabelle neben sich zu ziehen.
„Ich lasse mich nicht gerne vorzeigen“, sagte Isabelle, indem sie zurücktrat. Dann begann sie zu lachen und fügte hinzu: „Ich kann dir übrigens mitteilen, dass du dich sehr irrst, wenn du glaubst, dass sein Interesse dir gilt. Ich habe diesen Offizier gestern auf der Treppe
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