Die Versuchung
sie ist mir lieber als alle meine Brüder zusammen.“
„Sie streiten sich nie?“
„Nie. Sie ist meine engste Vertraute, wenn ich zuhause bin, und meine einzige Briefpartnerin, wenn ich im Ausland bin. Sie ist eine wunderbare Schwester.“
„Ist sie älter als Sie?“
„Nein, jünger“, antwortete Hamilton. „Wir haben als Kinder zusammen Sprachen gelernt. Sie werden in der nächsten Zeit ihre Stelle einnehmen. Und wenn Sie lernen wollen, ein wenig Englisch zu sprechen, dann bin ich gerne bereit, Ihnen zu helfen.“
„Oh wunderbar!“, rief Isabelle. „Das habe ich mir lange gewünscht.“
„Wie wäre es, wenn Sie jetzt Ihre erste Lektion nähmen. Fangen wir mit diesem Buch an.“
Er legte das Buch vor sie auf den Tisch, und sie schlug es auf und begann zu lesen – mit der seltsamsten Aussprache, die Hamilton je gehört hatte. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen und stützte den Kopf in seine Hände, damit Isabelle nichts von seiner Mimik bemerkte. Er verbesserte kein einziges Wort. Als sie die erste Seite gelesen hatte, blickte sie auf, sah seine angestrengt verkrampften Gesichtszüge und brach in schallendes Gelächter aus.
„Warum lachen Sie nicht, wenn Ihnen danach ist?“, fragte sie.
„Ich wollte Sie nicht kränken.“
„Wenn Sie einen Grund haben, offen zu lachen, so kränkt mich das überhaupt nicht. Ich kann es nur nicht leiden, wenn Sie sich über mich lustig machen.“
Isabelle las weiter, blickte jedoch am Ende jedes Satzes auf und bestand darauf, von ihm korrigiert zu werden.
Eine Woche später besuchte Madame Berger Sophie, die sie in ihr Zimmer führte. Nachdem die Besucherin ihren Hut abgenommen und sorgfältig ihr Haar geordnet hatte, ging sie ohne nähere Erklärung hinüber in den Salon, schien überrascht zu sein, ihn leer zu finden, sah in das angrenzende Zimmer, das ebenfalls leer war, und sagte scherzhaft zu Sophie: „Meine Liebe, was ist denn aus deinem Engländer geworden?“
„Nichts“, antwortete sie niedergeschlagen. „Ich glaube inzwischen, dass er sich aus Isabelle mehr macht als aus mir, sie streitet auch kaum noch mit ihm und fragt sogar manchmal nach seiner Meinung zu irgendetwas. Sie bekommen jetzt gemeinsam Unterricht von einem Studenten in deutscher und englischer Literatur und reden über Dinge, die mich schrecklich langweilen.“
„Was Isabelle und deinen Engländer angeht, kann ich dich beruhigen, zumindest bisher interessiert sich keiner sonderlich für den anderen. Oder falls er etwas an ihr findet, so weiß sie bisher jedenfalls nichts davon. Das weiß ich aus sicherer Quelle.“
„Aus sicherer Quelle?“
„Ja, denn stell dir vor, wer ihr Lehrer ist – niemand anders als Theodor! Mein Theodor! Er hat mir gesagt, dass die Stunden, die er hier gibt, für ihn die reinste Erholung sind, und er ist voll des Lobes für Herrn Hamilton, den er für überaus gebildet, intelligent, amüsant und was weiß ich noch alles hält.“
„Der Lehrer Herr Biedermann ist also Theodor! Darauf wäre ich nie gekommen!“
„Natürlich nicht, ich habe seinen Nachnamen ja nie erwähnt.“
„Aber – er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, Olivia.“
„Und wie hast du ihn dir vorgestellt?“
„Irgendwie anders, vielleicht … romantischer, poetischer und … auch attraktiver ...“
„So, Theo gefällt dir nicht?“, entgegnete Madame Berger schnippisch. „Wie sollte er denn sein deiner Meinung nach – sollte er aussehen wie ein Graf oder ein Baron?“
Durch Olivias Tonfall gereizt, antwortete Sophie: „Nein, das nicht unbedingt, aber er sieht nun wirklich aus wie ein ganz gewöhnlicher Student mit seinem offenen Hemdkragen, den zurück gekämmten Haaren, den blauen Augen, dem Ziegenbart ...“
„Warte, meine Liebe, ich verstehe jetzt, was du meinst. Theo ist nicht groß genug, um dir zu gefallen. Er müsste dunkles Haar, braune Augen, schmale Hände und ein schmales blasses Gesicht haben – so wie der gute Herr Hamilton. Aber deine sentimentale Schwärmerei und deine Bewunderung für ihn sind völlig verschwendet, Sophie, denn er denkt nicht an dich.“
„Du bist unfreundlich, Olivia!“
„Und du noch mehr, Sophie, wenn du über den armen Theo so abfällig sprichst.“
„Aber du hast mit ihm jetzt nichts mehr zu tun, du bist verheiratet!“
„Deshalb muss er mir doch nicht gleichgültig sein. Der Arme ist immer noch hoffnungslos in mich verliebt. Ich muss gestehen, dass ich ein wenig befürchtet hatte, er
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