Die Versuchung der Hoffnung
mir herunter, verdränge und verberge sie tief in mir. Denn wenn ich gleich bei Mike bin, soll er nicht sehen, wie schlecht es mir geht.
Als ich in den Bus steige, friere ich erbärmlich.
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John starrt ihr fassungslos hinterher. Mit allem hat er gerechnet, aber nicht damit, dass sie ihm bei diesem Termin hängen lassen wird. Er hätte sie dort gebraucht! Ihre Ruhe, ihre Nähe, ihre Kraft.
Sie kommt nicht. Er hat sie einmal um etwas gebeten und sie kommt nicht!
Er hat das dringende Bedürfnis, irgendetwas mit bloßen Fäusten zu zerstören, auf etwas so lang einzuschlagen, bis es einfach verschwunden ist.
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Als ich zu Hause ankomme, sind meine Eltern schon dabei, ihre Sachen zusammenzusuchen. Wir wechseln nur ein paar Worte miteinander, dann gehe ich in Mikes Zimmer, um nach ihm zu sehen. Er schläft tief und fest. Heute war er bei der Dialyse. Danach ist er meistens völlig fertig. Ich schiebe mir einen Sessel an sein Bett und nehme meinen Laptop heraus, um zu schreiben. Natürlich könnte ich mich auch ins Wohnzimmer setzen, doch ich habe keine Lust, dort allein zu sein. Aber heute kann ich mich einfach keine zwei Minuten am Stück konzentrieren. Schließlich packe ich den Laptop wieder zurück in meinen Rucksack, rutsche näher ans Bett und betrachte das Gesicht meines schlafenden Bruders. In den letzten Wochen hat er immer weiter abgebaut, schläft immer mehr und hat trotzdem dunkle Ringe unter den Augen.
Mein großer Bruder!
Ich kann mich daran erinnern, wie sehr ich zu ihm aufgeblickt habe, als wir beide klein waren, wie sehr ich seine Kraft und seine Stärke immer bewundert habe. Und jetzt liegt er hier und ist kaum mehr als ein Schatten seiner selbst.
Tief seufzend stehe ich aus dem Sessel auf, nehme mir die überflüssigen Kissen und Decken vom Fußende seines Bettes und lege sie auf den Boden. Ich schreibe John eine SMS. Dann schalte ich den Fernseher ein und rolle mich auf meinem Deckenlager zusammen. Genau so habe ich oft gelegen, als ich ein Kind war und nicht einschlafen konnte. Mike hat mir dann so lang Geschichten erzählt, bis es mit dem Schlafen doch geklappt hat.
Jetzt ist es allerdings noch zu früh zum Schlafen und ich schaue stattdessen alte Zeichentrickserien im Fernsehen an. Irgendwann regt sich Mike und wird wach.
„Hey, Cookie“, sagt er, als er mich sieht und blinzelt verschlafen.
„Hey, großer Bruder!“ Ich setze mich auf. „Brauchst du irgendetwas? Hast du vielleicht Hunger?“
Er schüttelt den Kopf. „Danke, ich habe alles hier, was ich brauche.“ Er greift nach seinem Wasserglas auf dem Nachttisch und trinkt ein paar Schlucke.
„Wie war es heute beim Arzt?“
Mike zuckt resigniert mit den Schultern.
„Wie immer: anstrengend und ohne Neuigkeiten!“ Dann richtet er seinen Blick wieder auf den Fernseher. „Was schaust du dir an?“
„Alte Folgen von Roger Rabbit.
„Sehr gut.“ Nachdem er das Wasserglas wieder weggestellt hat, stopft er sich das Kissen in seinem Rücken zurecht und wir schauen zusammen fern. Wir sitzen einfach nur da. Schweigen zusammen und lachen zusammen über Stellen, über die wir schon so oft gelacht haben. Plötzlich wird mir klar, dass wir beide wissen, dass wir nicht mehr oft Gelegenheit dazu haben werden. Mir schnürt sich die Kehle zu bei dem Gedanken. Ich klammere mich innerlich daran fest, dass er hoffentlich bald ein Spenderorgan bekommen wird. Der Gedanke, dass ich ansonsten in nicht allzu ferner Zukunft keinen großen Bruder mehr haben werde, dass Mike einfach plötzlich weg sein wird, ist so unfassbar, dass ich gar nicht genauer darüber nachdenken mag.
Nach einer Weile stelle ich fest, dass Mike nicht mehr lacht, wenn ich lache und schon wieder eingeschlafen ist.
Ich versuche John anzurufen, bestimmt zehnmal, aber er lässt immer die Mailbox anspringen. Auf meine SMS hat er auch nicht reagiert. Das ungute Gefühl wird immer stärker und lässt sich einfach nicht verdrängen. Am liebsten würde ich zu ihm fahren, aber ich kann Mike ja jetzt nicht allein lassen. Wenn mal etwas mit ihm sein sollte und niemand ist hier … Das wäre eine Katastrophe.
Die Nacht verbringe ich vor Mikes Bett. Viel Schlaf finde ich allerdings nicht.
Ich träume von John, der bei seinem morgigen Konzert auf der Bühne tot umfällt und nur von Mike und mir gerettet werden kann. Aber wir schaffen es einfach nicht pünktlich dorthin zu kommen, egal, wie verzweifelt wir es versuchen.
Als ich morgens aufwache, bin ich froh, dass die
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