Die Versuchung der Hoffnung
Lebewesen in meinem Bauch bedeutet hätte. Es hatte ja so schon mehr als genug davon mitbekommen. Damals hatte ich mir vorgenommen, es John zu sagen, wenn das Kind auf der Welt war.
Und als es dann da war und ich es in den Armen hielt, wurde ich überschwemmt von hilfloser, alles einnehmender Liebe für dieses Wesen. Es war noch keine fünf Minuten alt und ich wäre bereits ohne mit der Wimper zu zucken für dieses kleine Wesen gestorben, wäre ich je in die Situation gekommen, dadurch sein Leben retten zu können.
Als Samuel geboren wurde, geisterten die schlimmsten Meldungen über John durch die Presse. Die Sick Theories waren zu diesem Zeitpunkt gerade zu ziemlichem Ruhm und Erfolg gekommen und John muss sich ziemlich … na, nennen wir es ausgetobt haben. In den einschlägigen Medien war von Sexexzessen und erheblichen Drogenproblemen die Rede. Von verwüsteten Hotelzimmern, wilden Prügeleien und allem, was man den Sängern von Rockbands sonst nur in schlechten, vorurteilsbelasteten Filmen nachsagt. Dazu tauchten immer wieder Fotos von ihm auf, völlig zugedröhnt, mit den verschiedensten Frauen im Arm und mit blau geschlagenen Augen und aufgeplatzten Lippen.
So fest ich mir auch vorgenommen hatte, Jonathan über die Geburt seines Sohnes zu informieren, so wichtig es mir für ihn selbst erschien, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass er Vater geworden war: Als ich mein kleines, unschuldiges Baby im Arm hielt, konnte ich es einfach nicht.
Das Bedürfnis, mein Kind zu beschützen, siegte eindeutig über meinen Gerechtigkeitssinn.
Was sollte ein größenwahnsinniger Sänger mit Hang zu Gewaltausbrüchen und einem erheblichen Drogenproblem schon für ein Vater für mein Kind sein? Was für ein Vorbild sollte er sein? Ein ziemlich schlechtes, im besten Fall.
Dazu kam die Angst davor, was sein würde, wenn er mir eine Heerschar von überbezahlten Anwälten auf den Hals hetzen würde, weil ihm irgendetwas nicht passte, was ich mit unserem gemeinsamen Kind machte.
Ich gebe zu, dass ich ein Angsthase war. Und vielleicht war ich, gut versteckt hinter all den Übermutterallüren, auch einfach ein gehöriges Stück egoistisch. Ich wollte John nicht wiedersehen, weil ich mich weder Schmerz noch Gefühlschaos stellen wollte. Und ich wollte dieses winzig kleine Kind, das ich zur Welt gebracht hatte, mit niemandem teilen müssen. Es fühlte sich so sehr nach meinem und nur meinem Kind an, dass mir der Gedanke, jemand anderes könnte bei meinem Kind auch etwas mitzuentscheiden haben, schier unerträglich erschien.
Später. Wenn er mal ein bisschen größer ist und John sich vielleicht wieder gefangen hat.
Das habe ich mir immer und immer wieder vorgenommen, aber so etwas wie einen richtigen Zeitpunkt habe ich nie gefunden. Und dann ist das Gefühl, dass ich es ihm erzählen müsste, in immer weitere Ferne gerückt. Manchmal hat mich deswegen ein schlechtes Gewissen geplagt, aber meine Verdrängungsmechanismen funktionieren hervorragend. Sam hat es mir dabei leicht gemacht: Er hat ein so enges Verhältnis zu meinem Bruder, dass ich niemals das Gefühl hatte, ihm einen Vater vorzuenthalten. Als er älter wurde, hat er zwei-, dreimal nachgefragt, wer denn eigentlich sein Vater sei. Ich hab dann immer geantwortet: „Ein ganz bekannter Star!“
Als er mir die Frage das erste Mal gestellt hat, muss er ungefähr vier Jahre alt gewesen sein und hat mich erstaunt angesehen.
„Mein Daddy ist ein Stern, Mommy? Einer am Himmel?“
Und ich habe gelacht und gesagt: „Nein, ein Star. Jemand ganz Bekanntes. Er singt, mein Schatz.“
Das war, fand er wohl, eine zufriedenstellende Antwort. Wir haben dieses Spiel ein paar Mal wiederholt, aber jetzt hat er schon lang nicht mehr nachgefragt. Erstaunlicherweise hat er mich auch nie gefragt, warum sein Daddy nicht da ist, um sich um ihn zu kümmern. Aber er hatte ja auch immer Onkel Mike, der für ihn da war und die Vaterrolle in seinem Leben besetzt.
Natürlich weiß ich, dass es falsch und unfair und egoistisch von mir war und ist. Aber manchmal laufen die Dinge im Leben eben anders, als wir sie in unseren ehrenhaften Idealvorstellungen gern hätten. Das Leben ist nun mal keine Idealvorstellung. Und vermutlich ist kein Mensch durch und durch und immer nur aufrichtig. Ich zumindest bin es nicht, auch wenn ich mir meistens Mühe gebe.
Und jetzt ist John hier. Und weiß von nichts. Und wenn es nach mir ginge, würde das auch erst einmal so bleiben. Ich muss mich erst mal sammeln
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