Die Versuchung der Hoffnung
heruntergerutscht.
Ich beuge mich über ihn, um seine neuen Tätowierungen genauer betrachten zu können. Der neue Drache, der den Stern hält, ist genauso schön und filigran gearbeitet, wie der, den ich schon so lang kenne.
Vorsichtig, um Jonathan dabei nicht zu wecken, ziehe ich die Decke ein kleines Stückchen tiefer, um den Schriftzug zu entziffern.
Die Schrift ist sehr dunkel, vermutlich schwarz, aber das Licht schluckt fast alle Farben. Trotzdem hebt sich der dunkle Ton gegen Johns Haut deutlich ab. Der Schriftzug zieht sich in einem Bogen nach unten von seinem linken Hüftknochen bis zu seinem rechten, in der Mitte streift er fast sein Schambein.
Dum spiro spero, sum spero amo, dum amo vivo steht dort in ineinander verschlungenen Buchstaben. Mein Latein ist schon ein bisschen eingerostet, aber nach kurzem Nachdenken erkenne ich das Zitat von Cicero wieder: Solange ich atme, hoffe ich; solange ich hoffe, liebe ich; solange ich liebe, lebe ich.
Auch den neuen Drachen und den Stern nehme ich genauer in Augenschein. Vorhin, als ich ihn im Bad gesehen habe, ist mir schon aufgefallen, dass der neue Drache feingliedriger ist und femininer wirkt als der, den ich schon kannte. Er hat Flecken in seiner Iris und ich könnte schwören, dass seine Augen grau sind. Grau mit bunten Flecken. So wie meine.
Ich atme tief durch und betrachte das alles noch einmal. Der Stern, der Schriftzug, der Drache, dass alles sind Symbole für Hoffnung.
Hope.
Plötzlich halte ich es im Bett nicht mehr länger aus. Ein Gefühl der Unruhe breitet sich in mir aus. Ich springe so eilig aus dem Bett, dass ich mir auch noch das Bein an meinem Nachttisch stoße und das Bild von Sam umfällt. Leise fluchend will ich es gerade wieder aufstellen, als mir ein viel größeres Problem einfällt.
Sam ist Johns Sohn.
Und John weiß nichts davon.
Panisch drücke ich das Bild an meine Brust, versuche geräuschlos alle anderen Bilder von der Wand abzunehmen, die auf Samuels Existenz hinweisen, und verlasse dann das Schlafzimmer so leise wie möglich. Ich renne durch alle Räume, sammle hektisch alle Bilder von Sam ein und werfe sie in die nächstbeste Schublade. Auf einmal ist mir ganz furchtbar heiß. In der Küche nehme ich eine kleine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Durch das Küchenfenster betrachte ich die nächtliche Schneelandschaft. Es hat endlich aufgehört zu schneien. Die Welt sieht so verzaubert aus, die weiße, weiche Schicht lässt alles unberührt und friedvoll erscheinen. Ich trinke einen Schluck des gekühlten Wassers, dann presse ich mein erhitztes Gesicht gegen den kalten Kunststoff der Flasche, rolle sie über meine Stirn und meinen Nacken. Ganz langsam beruhigen sich meine Gedanken und lassen sich wieder ordnen.
Als ich mich von Jonathan habe scheiden lassen, ging alles ziemlich drunter und drüber. Es hat mich in einem Ausmaß mitgenommen, das ich mir vorher kaum hätte vorstellen können. Manchmal geschehen im Leben Dinge, die uns einfach mehr abverlangen, als wir leisten können. Und ich war nach der Trennung von John in so einer Situation. Ich habe mich gefühlt, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, als wäre mein Leben wie ein Kartenhaus eingestürzt und in sich zusammengebrochen. Nachdem ich nach ein paar Tagen endlich aufgehört hatte zu weinen, war es wochenlang so, als wäre ich nicht mehr als ein Roboter, eine Maschine. Mehr schlecht als recht gelang es mir, meine täglichen Pflichten zu erledigen. Doch die meiste Zeit habe ich damit verbracht, auf meinem Bett zu liegen und die Decke anzustarren. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind nur verschwommen. Was mir jedoch sehr deutlich im Kopf geblieben ist, ist die Empfindungslosigkeit, in der ich damals gefangen war. Mein Inneres bestand aus einem seltsam abgestumpften Haufen von nichts. Ich konnte mich nicht freuen, konnte nicht mehr lachen und zum Glück auch weder Trauer noch Schmerz empfinden. Mir war einfach alles egal. Jeder Tag erschien mir grau, jedes Essen ohne Geschmack, jeder Augenblick inhaltslos. Dass ich schwanger war, habe ich erst bemerkt, als ich schon fast im fünften Monat war.
Ich weiß natürlich, dass es nicht richtig war, es John zu verschweigen. Aber zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich einfach nicht dazu in der Lage, ihm gegenüberzutreten. Nicht nur, dass ich schlichtweg Angst vor einem Treffen hatte. Ich hatte auch Angst davor, was der enorme Stress, den so ein Treffen dargestellt hätte, für das ungeborene
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