Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
hier draußen bleiben, allein mit dir?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute herausfordernd zu mir auf. »Gibt es irgendeinen anderen Weg, Jack zu finden, oder bin ich die einzige Möglichkeit?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich aufrichtig. »Dad sagt, er wird es schon regeln. Nun ja, zusammen mit Michael.«
»Also will Em das Problem wie üblich umgehen und sich selbst darum kümmern?«
»Ja.«
Lilys angespannte Gesichtszüge lockerten sich nach und nach, während sie die einzelnen Teile des Puzzles zu einem Ganzen zusammenfügte. Ich wollte verhindern, dass sie auf das Puzzleteil stieß, das sie in diesem Augenblick an diesen Ort geführt hatte.
»Ivy Springs ist kein Eldorado für Freaks«, warf ich unvermittelt ein, um ihren Gedankengang zu unterbrechen. Ich zog einen Zweig aus dem Blätterhaufen, pellte die Rinde ab und warf ihn ins Gras.
»Aber bei all den Leuten mit ›besonderen Fähigkeiten‹, die sich hier versammelt haben, muss die Stadt doch eine magnetische Anziehungskraft auf andere Freaks haben«, widersprach sie mir.
»Woher willst du wissen, dass es in Nashville nicht auch fünfzig Freaks gibt? Oder fünfhundert in Atlanta?« Ich nahm mir einen weiteren Zweig und knibbelte die Rinde ab. »Vielleicht halten sie es da auch geheim.«
»In Atlanta gibt es garantiert mehr als fünfhundert Freaks, aber das heißt nicht, dass welche davon besondere Fähigkeiten haben.« Sie riss mir den Zweig aus der Hand und brach ihn in der Mitte durch.
»Okay.« Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Du versuchst, das Thema zu wechseln.« Sie schleuderte eine Hälfte des Stöckchens ins Gebüsch. »Ich weiß nicht, wieso, aber wenn du mich austricksen willst, musst du ein bisschen früher aufstehen.«
»Eins zu null für dich.«
»Wenn ihr Jack nicht findet und die Zeit zurückgedreht wird, woher wollt ihr wissen, dass sich die Dinge nicht haargenau so entwickeln würden wie beim ersten Mal?«, fragte sie. Äußerst scharfsinnig. »Woher wollt ihr wissen, dass die Leute nicht dieselben Entscheidungen treffen und dasselbe Leben leben würden?«
»Ich glaube, die Leute, die Jack in ihre Gewalt bringen wollen, planen, ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Ab welchem Zeitpunkt werden sie ihn entfernen? Nach Dads Ermordung, aber bevor er Emersons Zeitachse manipuliert hat?«
Sie schleuderte die zweite Hälfte des Stocks in die Büsche. »Das stinkt.«
»Ja, das stinkt«, stimmte ich ihr zu.
»Wenn ich euch helfe …« Sie hielt inne und schnappte nach Luft, während sie über meine Schulter starrte.
Ich drehte mich um.
Keine zehn Meter von uns entfernt befand sich ein Mann auf einem Pferd.
»Da … stimmt … was nicht«, krächzte Lily.
Das Ende eines langen Seils wand sich wie eine Schlinge um den Hals des Mannes, das andere Ende war an den höchsten Ast eines Walnussbaums geknüpft worden. Nichts von alledem war zwei Minuten zuvor da gewesen. Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, die Füße steckten in den Steigbügeln. Hinter dem Pferd, auf dem er saß, materialisierte sich ein Gewehr, dessen Lauf himmelwärts gerichtet war.
Als Nächstes trat der Schütze in Erscheinung.
»Wir halten hier nichts von Dieben.« Er lehnte das Gewehr an den Baumstamm, während er den Seilknoten festzurrte. »Wir lassen uns weder unser Vieh noch unsere Frauen stehlen.«
»Ich habe deine Frau nicht angerührt.«
Beim Entsichern des Gewehrs entstand ein klickendes Geräusch, das in der öden Landschaft widerhallte. Lily zuckte erschrocken zusammen.
»Ich habe sie nicht angerührt, und ich bin kein Dieb. Ich dachte, es wäre mein Pferd gewesen, ich dachte …« In seiner Entschuldigung schwang Verzweiflung mit. Auf der Stirn des Diebes schimmerten Schweißperlen.
»Ich habe dich bei beiden Vergehen auf frischer Tat ertappt. Um die Frau hab ich mich schon gekümmert, aber du darfst gern eine zweite Runde auf meinem Pferd reiten.« Der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug.
»Das wirst du bereuen«, sagte der Dieb. »Meine Männer werden es dir heimzahlen.«
»Dazu müssen sie mich zuerst finden. Viel Spaß!«
Ich sprang vor und packte Lilys Arm. Bevor sie protestieren konnte, wirbelte ich sie herum und presste sie an meine Brust.
Ein Schuss hallte durch das Zwielicht.
Das Pferd bäumte sich auf und preschte in vollem Galopp davon. Der Mann wurde nach hinten gerissen, und ein lautes Knacken war zu hören. Seine Füße zuckten unkontrolliert herum, während sein Gesicht
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