Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
könnten genauso viele schlimme Dinge passieren, wenn du ihn findest. Sie denken, wir wären beim Fluchtversuch mit dem Floß ertrunken. Aber was würde geschehen, wenn sie die Wahrheit erführen? Wir waren hier in Amerika lange Zeit in Sicherheit, Lilliana, aber das bedeutet nicht, dass man uns nicht aufspüren kann.« Abi presste sich die Faust vor den Mund und hielt ein paar Sekunden lang inne. »Beim kleinsten Hinweis, dass du noch am Leben bist und auch nur ansatzweise über dieselbe Gabe wie dein Vater verfügst, stehen die Leute, für die er arbeitet, bei uns vor der Tür.«
»Vielleicht ist es nicht mehr so wie früher.«
»Glaubst du etwa, dein Vater arbeitet aus freien Stücken für sie? Die Regierung zwingt ihn dazu, für sie oder den Höchstbietenden zu arbeiten, und dann muss er mit ansehen, wie das Geld in fremde Taschen fließt.« Abis Stimme wurde immer lauter. »Was glaubst du, was diese Leute tun würden, wenn sie ihr Einkommen verdoppeln könnten? Meinst du, man würde dich gut behandeln auf diesen Booten unter all den Männern?«
Bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. Unwillkürlich rückte ich näher zu Lily und legte den Arm auf ihre Stuhllehne.
Abi starrte mich kurz an, bevor sie sich wieder ihrer Enkeltochter zuwandte. »Da ist es nicht so wie hier. Es ist nicht dasselbe.«
»Das weiß ich, und deshalb bin ich dir auch so dankbar für all die Opfer, die du für mich gebracht hast.« Lily hatte sichtlich Mühe, die Fassung zu wahren. »Aber du musst verstehen, dass das, worum ich dich bitte, zwischen Leben und Tod entscheiden …«
»Nein.« Abis Stimme klang nicht nur entschlossen, sondern harsch. Ich spürte, dass Lily es nicht gewohnt war, in diesem Ton zurechtgewiesen zu werden, genauso wenig, wie Abi es gewohnt war, von Lily herausgefordert zu werden.
»Na schön.« Lily stand auf, durchquerte die Küche und nahm Jacke und Tasche von der Garderobe. »Ich bin zum Abendessen zurück.«
»Bittest du nicht mehr um Erlaubnis?«
Ich hasste den Schmerz, den ich bei den beiden spürte, und hätte ihn am liebsten ausgelöscht, um ihr inniges Verhältnis wiederherzustellen.
»Darf ich gehen?«, fragte Lily, ohne ihre Großmutter anzusehen. »Mit Kaleb?«
Abi sah mich an. »Dir liegt was an meiner Enkeltochter?«
»Ja, Ma’am.« Mehr als das.
»Dann wirst du sie nichts tun lassen, was sie in Gefahr bringt?«
»Nein, Ma’am, das werde ich nicht.« Ich erhob mich. »Ich verspreche es.«
»Also gut.« Ihre Augen hatten ihren Glanz verloren. »Ich hab dich lieb, Lily.«
Ohne ein weiteres Wort verließ Lily mit mir die Wohnung.
35. KAPITEL
W ir schlenderten die Straße entlang.
Ich hatte noch nie einen gemächlichen Spaziergang durch das Zentrum von Ivy Springs gemacht, schon gar nicht mit einem Mädchen. Lilys wellenförmige Emotionen verrieten mir, dass sie dabei war, all die Informationen zu verarbeiten, die sie von ihrer Großmutter bekommen hatte. Wenn sie so weit war und reden wollte, würde ich da sein und ihr zuhören. Sie vertraute mir.
Das freute mich auf eine Weise, die ich nicht erklären konnte.
Der Kürbisschnitz-Wettbewerb nahm fast den gesamten Marktplatz ein. Überall waren Menschen, strömten aus Cafés und Läden und saßen auf Bänken. Ich hatte keine Lust auf dieses Gedränge und Lily auch nicht, also landeten wir schließlich im Sugar High, einem Süßwarenladen, der wie ein Highschool-Flur dekoriert war. Plakate für die Schülersprecherwahl und Abschlussballposter hingen an den Wänden, ab und zu gab es sogar eine Lautsprecherdurchsage. Die Schließfachtüren waren durchsichtig und präsentierten sämtliche Süßigkeiten, die man sich nur vorstellen konnte. Während ich ein halbes Pfund Atomic Fireballs verschlang, sah Lily mir zu und trank eine Tasse heiße Minzschokolade.
»Sie liebt dich«, sagte ich schließlich.
»Natürlich tut sie das. Sie hat ihr Leben, ihre Familie, ihr Heimatland aufgegeben, nur um mich hierherzubringen. Damit ich in Sicherheit bin.«
Ich sammelte meine Bonbonpapierchen ein und warf die leere Tüte in den nächsten Mülleimer. »Sie strahlt keinerlei Bedauern aus, Tiger. Sie würde es jederzeit wieder so machen.«
»Das weiß ich.« Sie drehte den Styroporbecher mit dem heißen Kakaogetränk zwischen ihren Fingern. Ich zuckte zusammen, als sie ihn plötzlich so heftig auf den Tisch knallte, dass sein Inhalt überschwappte. »Aber trotzdem verbietet sie mir, meine Gabe einzusetzen. Was für ein verdammter Mist!«
Eine junge
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