Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Mutter musterte Lily missbilligend und hielt ihrem kleinen Sohn die Ohren zu, bevor sie ihn ans andere Ende des Ladens schob.
»Abi verhält sich irrational«, fuhr Lily fort, während sie den verschütteten Kakao wegwischte und die schmutzige Serviette in den Becher stopfte. »Sie weiß, wie wichtig es mir ist, sonst hätte ich sie doch nicht gefragt. Sie weiß, wie viel mir an Em liegt, und ich habe ihr gesagt, wie wichtig du mir bist …«
»Ich?«
»Ich … ich meine, dass ich durch dich erkannt habe, wie wichtig es ist, dass wir Jack so schnell wie möglich finden und …«
»Nein.« Ohne es zu wollen, fing ich zu grinsen an. »Du hast deiner Großmutter gesagt, dass ich dir wichtig bin. Und jetzt raus mit der Sprache, was empfindest du für mich?«
»Ich habe dir ja schon mehrfach gesagt, dass ich dich nicht mag.« Ihre Stimme klang hochmütig, aber es kam nicht von Herzen. Sie seufzte. »Du bist genau der Typ Junge, vor dem meine Großmutter mich immer gewarnt hat.«
»Junge?« Ich setzte mich gerade hin und nahm die Schultern zurück. »Was für ein Typ Mann bin ich denn in deinen Augen?«
»Eine Versuchung.« Mit beeindruckender Zielgenauigkeit beförderte sie ihren Becher in den Mülleimer.
»Wie die Schlange im Garten Eden?«
»Nein. Eher wie der Apfel.«
»Der Apfel?«
»Ja. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eva jemals Lust hatte, in die Schlange zu beißen.«
»Okay«, stammelte ich verdattert.
»Zurück zur Tagesordnung.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, wie ein Richter, der den Saal zur Ordnung ruft. »Warum hast du mich nicht gebeten, Abis Regel zu brechen?«
Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Du hast so viel Achtung vor ihr, und sie liebt dich so sehr. Weil sie ihr altes Leben für dich aufgegeben hat, denkst du, du stehst in ihrer Schuld. Aber du verdankst ihr nur dein Wohlergehen.«
Lily stand auf und dachte über meine Worte nach, während wir unseren Spaziergang fortsetzten. »Wieso habe ich ihr mein Wohlergehen zu verdanken?«
»Ob Eltern oder Großeltern – sie tun, was sie können, um uns zu beschützen. Manchmal beinhaltet das auch Geheimnisse.« Mein Dad hatte mir nichts über das Infinityglass gesagt, weil meine Mom es ihm verboten hatte. Er hatte Memphis verlassen, sowohl um uns als auch seine eigenen Interessen zu schützen. Er fühlte sich für jeden verantwortlich, dessen Gaben er recherchiert hatte. Indem ich Jack Landers mit Dads persönlichen Akten davonlaufen ließ, hatte ich seine Schützlinge in Gefahr gebracht. »Als Abi die Wahrheit vor dir verborgen hat, war sie überzeugt, das Richtige zu tun. Sie war sich ganz sicher, und du weißt, sie könnte mir nichts vormachen.«
»Du klingst sehr erwachsen.«
Ich zuckte die Achseln. »Nach allem, was sie über deinen Dad gesagt hat und über die Leute, für die er arbeitet, ist mir klar geworden, wie übel es werden könnte, wenn du zurück nach Kuba gehen würdest. Sie fürchtet sich nicht nur vor dem, was passieren könnte, sie hat panische Angst.«
Die hatte ich auch.
»Und hast du nicht genauso viel Angst vor dem, was dir passieren könnte? Oder deinem Dad?«
»Uns bleibt noch etwas Zeit. Wir werden einen anderen Weg finden.« Ich mochte nicht daran denken, Lily in Gefahr zu bringen. Allein bei der Vorstellung krampfte sich mein Magen zusammen. »Dann bin ich also ein Apfel, was? Dann würdest du mich hüten wie deinen Augapfel?«
»Kaleb.« Sie blieb stehen, ihre Wangen waren feuerrot geworden. »Mir wird ganz anders, wenn ich mir vorstelle, dass du genau weißt, wie ich mich fühle.«
»Weiß ich das?«
Hoffnung. Erwartung. Unsicherheit.
»Ja, stimmt«, gab ich zu, während mein Herzschlag sich beschleunigte. »Aber ich verlasse mich lieber nicht auf meine … Gabe … in gewissen Momenten, in denen eine Fehldeutung fatale Folgen haben könnte.«
»Fatale Folgen?«
Mein cooles Image ging den Bach runter. »Vielleicht schätze ich deine Gefühle ja falsch ein.«
»Keine Sorge, das tust du nicht.« Ihr Gesichtsausdruck war genauso offen wie ihre Worte. »Gestern Abend kurz vor dem Einschlafen habe ich über etwas nachgedacht. Wenn Menschen etwas fühlen, fühlst du dasselbe. Also ist es eine … Art beiderseitige Erfahrung?«
Ihre Scharfsichtigkeit machte mich kirre. Fast genauso wie die Tatsache, dass sie beim Einschlafen an mich dachte. In ihrem Bett.
»Beiderseitig. Ja. Ich meine, äh, es ist … kompliziert.«
Verlockung . »Also wie würdest du dich in diesem Moment fühlen,
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