Die Versuchung
daß er hier verkehrt ist.«
Charlie beugte sich plötzlich vor. »Und was hat der Bursche dann gesagt?«
Jetzt zitterte LuAnn am ganzen Leib. »Er sagte, er würde jemanden suchen.«
»Wen? Wen?« fragte Charlie. LuAnn senkte den leeren Blick, starrte zu Boden.
Schließlich schaute sie Charlie wieder an. »LuAnn Tyler aus Georgia.«
Charlie lehnte sich zurück. Nach einem Jahrzehnt hatten sie beide die Angst, entdeckt zu werden, auf Sparflamme köcheln lassen, obgleich diese Angst stets präsent war und es immer bleiben würde. Und nun war die Flamme der Furcht wieder entfacht worden.
»Hat er sonst noch was gesagt?«
LuAnn rieb die Serviette über die trockenen Lippen. »Er sagte, er wolle mit mir reden. Dann … dann … ich … ich bin durchgedreht und hab’ aufs Gaspedal getreten und den Kerl beinahe überfahren.« Nach diesen Worten stieß sie die Luft aus und blickte Charlie an.
»Und er hat dich verfolgt?«
Sie nickte. »Ich habe starke Nerven, Charlie, das weißt du, aber auch die haben Grenzen. Ich wollte eine entspannende morgendliche Fahrt machen, und plötzlich kommt dieser Bursche, und mit einem Schlag ist alles anders.« Sie legte den Kopf schief. »Mein Gott, dabei hatte ich gerade angefangen, mich hier zu Hause zu fühlen. Jackson hat sich nicht blicken lassen. Lisa fühlt sich auf der Schule wohl. Und die Villa und das Anwesen sind so wunderschön …« Sie verstummte.
»Was ist mit dem anderen Burschen, diesem Riggs? Stimmt seine Geschichte?«
LuAnn hielt es nicht mehr auf dem Sofa. Sie stand auf und schritt nervös im Kreis umher, wie es ihre Gewohnheit war. Schließlich blieb sie vor einem der Regale stehen und strich liebevoll über eine Reihe ledergebundener Buchrücken. Im Laufe der Jahre hatte sie fast jedes Buch in der Bibliothek gelesen. Zehn Jahre intensiven Unterrichts durch die besten Privatlehrer hatten sie in eine wortgewandte, kultivierte, weltoffene Frau verwandelt, die nichts mehr mit dem Mädchen aus der Provinz gemein hatte, das von dem Wohnwagen und den Leichen fortgelaufen war. Jetzt aber konnte LuAnn diese blutigen Bilder nicht aus dem Kopf verbannen.
»Ja. Er hat sich zwischen mich und den anderen Wagen gesetzt. Dabei hätte ich den Kerl im Honda wahrscheinlich auch so abgehängt.« Leiser fügte sie hinzu: »Riggs hat mir tatsächlich geholfen. Und ich hätte mich gern bei ihm bedankt. Aber das konnte ich ja schlecht, nicht wahr?« In einer hilflosen Geste hob sie die Arme und setzte sich wieder.
Charlie rieb sich das Kinn, während er die Situation überdachte.
»Du weißt, daß der Lotteriebetrug vom gesetzlichen Standpunkt aus eine ganze Reihe schwerer Vergehen beeinhaltet. Aber die sind allesamt verjährt. Der Kerl kann dir nichts anhaben.«
»Und was ist mit der Mordanklage? Die verjährt nicht. Ich habe diesen Kerl im Wohnwagen umgebracht, Charlie – zwar in Notwehr, aber wer würde mir das jetzt noch glauben?«
»Die Polizei hat den Fall vor Jahren zu den Akten gelegt.«
»Okay. Willst du, daß ich mich stelle?«
»Nein, natürlich nicht. Ich glaube nur, daß du die Sache wahrscheinlich viel zu ernst nimmst.«
LuAnn zitterte. Wegen der Lotteriemanipulation oder des Totschlags ins Gefängnis zu wandern war nicht ihre größte Sorge. Sie legte die Hände zusammen und blickte Charlie an.
»Mein Dad hat wahrscheinlich nie ein ehrliches Wort zu mir gesagt. Er hat sich die größte Mühe gegeben, daß ich mich wie das wertloseste Stück Dreck auf der Welt fühlte, und jedesmal, wenn ich ein bißchen Selbstvertrauen aufgebaut hatte, machte er alles wieder kaputt. Er war der Meinung, daß ich zu nichts anderem tauge, als Babys in die Welt zu setzen und für meinen Mann hübsch auszusehen.«
»Ich weiß, du hattest eine harte Kindheit, LuAnn …«
»Ich habe mir geschworen, daß ich meinen Kindern so etwas niemals antun würde. Niemals. Das habe ich auf einen Stapel Bibeln geschworen und immer wieder am Grab meiner Mutter gesagt und Lisa zugeflüstert, als ich sie noch in mir getragen habe, und auch noch jeden Abend nach ihrer Geburt, ein halbes Jahr lang.« LuAnn schluckte und erhob sich wieder. »Und weißt du was? Alles, was ich Lisa erzählt habe, alles, was sie über sich weiß … du, ich, jedes verdammte Molekül ihrer Existenz ist eine Lüge. Alles erfunden, Charlie. Ja, gut, vielleicht ist die Sache verjährt, vielleicht muß ich nicht ins Gefängnis, weil es der Polizei egal ist, daß ich einen Drogendealer umgebracht habe. Aber wenn dieser
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