Die Versuchung
kräftiger Schwarzer, den sie vom Sehen kannte, winkte ab und legte die zehn Cent aus eigener Tasche drauf.
»Wir alle brauchen ab und zu ein bißchen Hilfe«, sagte er. LuAnn dankte ihm mit einem Lächeln. Zwanzig Minuten später betrat sie die Fernfahrerkneipe Number One, mehrere Stunden vor Beginn ihrer Schicht.
»He, Mädel, wieso kommst du jetzt schon?« fragte Beth, LuAnns Arbeitskollegin, und wischte den Tresen mit einem feuchten Lappen ab. Sie war um die Fünfzig und ein mütterlicher Typ.
Ein gut zwei Zentner schwerer Lastwagenfahrer musterte LuAnn über den Rand der Kaffeetasse hinweg. Obwohl sie vom Regen klatschnaß war, zollte er ihr pflichtschuldig Bewunderung, wie alle anderen. »Sie ist so früh gekommen, weil sie den guten alten Frankie nicht verpassen wollte«, sagte er mit breitem Grinsen. »Sie hat gewußt, daß ich die Nachmittagsschicht fahre und konnte den Gedanken nicht ertragen, mich nicht zu sehen.«
»Da hast du recht, Frankie. Es würde LuAnn glatt das Herz brechen, wenn sie dich alten haarigen Affen nicht regelmäßig zu Gesicht bekäme«, meinte Beth und stocherte sich mit einem Cocktailquirl zwischen den Zähnen herum.
»Hi, Frankie, wie geht’s?« fragte LuAnn.
»Jetzt geht’s mir super«, erwiderte Frankie und grinste immer noch übers ganze Gesicht.
»Beth, kannst du einen Moment auf Lisa aufpassen? Ich muß meine Uniform anziehen«, sagte LuAnn und wischte sich Gesicht und Arme mit einem Handtuch ab. Sie nahm Lisa hoch und war froh, daß die Kleine trocken und hungrig war. »Ich mache ihr gleich ’ne Flasche zurecht. Und Weizenbrei. Dann müßte sie eigentlich durchschlafen, obwohl sie erst vor kurzem ziemlich lange gepennt hat.«
»Na klar. Ich nehm’ dieses wunderschöne Mädelchen gern in meine Arme. Komm her, mein Schatz.« Beth nahm Lisa hoch und drückte sich die Kleine an die Brust. Lisa plapperte fröhlich und zog an dem Kugelschreiber, der hinter Beths Ohr steckte. »Aber mal ehrlich, LuAnn. Du mußt doch erst in ein paar Stunden anfangen. Was ist los?«
»Ich bin klatschnaß, und die Uniform ist das einzige saubere Stück, das ich habe. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich euch gestern abend versetzt habe. Sag mal, ist noch was vom Mittagessen übrig? Ich glaube, ich hab’ heute noch keinen Happen gegessen.«
Beth warf LuAnn einen tadelnden Blick zu und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wenn du doch auf dich auch so gut aufpassen würdest wie auf dieses Baby! Mein Gott, Kind, es ist fast acht Uhr.«
»Mach keinen Aufstand, Beth. Ich hab’s schlicht und einfach vergessen.«
Beth brummte. »Vergessen. Ha! Duane hat dein Geld wieder mal versoffen, stimmt’s?«
»Du solltest diesen Mistkerl endlich in die Wüste jagen«, meinte Frankie. »Aber laß mich ihn vorher noch kräftig in den Arsch treten. Für dich, Kleine. Du hast was Besseres verdient als dieses Scheißleben.«
Beth zog eine Braue hoch – ein deutliches Zeichen, daß sie Frankies Meinung teilte.
LuAnn musterte die beiden mit finsterer Miene. »Ich danke euch, daß ihr über mein Leben bestimmt, aber wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet?«
Einige Zeit später setzte LuAnn sich in eine Ecke und aß die Riesenportion, die Beth ihr zurechtgemacht hatte. Schließlich schob sie den Teller von sich und trank einen Schluck frischen Kaffee. Es hatte wieder heftig zu regnen angefangen. Das Prasseln auf dem Wellblechdach der Fernfahrerkneipe klang tröstlich. LuAnn zog den dünnen Pullover straffer um die Schultern und schaute auf die Uhr hinter der Theke.
Sie hatte immer noch zwei Stunden, bis ihr Dienst anfing. Normalerweise versuchte sie Überstunden angerechnet zu kriegen, wenn sie früher kam, doch der Geschäftsführer ließ das nicht mehr zu. Es schade der Bilanz, hatte er zu LuAnn gesagt. Und was ist mit meiner Bilanz, hatte sie zurückgefragt. Doch es hatte nichts genützt. Ansonsten aber war der Mann in Ordnung. Er gestattete LuAnn, Lisa mitzubringen. Ohne dieses Entgegenkommen hätte sie überhaupt nicht arbeiten können.
Lisa lag in ihrer Tasche und schlief. LuAnn stopfte die Decke fest. Sie hatte Lisa etwas von ihrem Essen gegeben. Bei fester Nahrung stellte Lisa sich schon sehr geschickt an. Allerdings war sie bei den gestampften Möhren wieder eingeschlafen. LuAnn machte sich Sorgen, daß ihre Tochter keine geregelten Schlafzeiten hatte. Würde es Lisa die Zukunft verbauen, wenn sie jede Nacht unter dem Tresen einer Kneipe schlief? Es konnte ihre Selbstachtung
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