Die vertauschte Braut: Historischer Liebesroman (German Edition)
Sie blickte sich um und sah kein Grab, das seit Jahrhunderten darauf wartete, einem würdigen Menschen seine Geheimnisse zu enthüllen. Sie sah nicht die Erfüllung eines lebenslangen Traumes, weil es, wie sie jetzt begriff, nie ihr Traum gewesen war. Es war immer der Traum eines anderen gewesen, der ihres Vater, ihres Urgroßvaters, Lord Tynesboroughs, Hajis.
In ihren Augen sammelten sich Tränen, langsam liefen sie über und rannen ihr die Wangen hinab. Nicht weil sie sterben würde, sondern weil sie sterben würde, ohne jemals wirklich gelebt zu haben. Sie würde sterben, ohne den Fuß auf die Straße gesetzt zu haben, der sie folgen sollte. Ohne einen Gefährten auf der Reise gehabt zu haben ... Nein, das stimmte nicht.
Sie hatte die Straße betreten und sie hatte ihren Gefährten gefunden, doch die Zeit war viel zu knapp gewesen und die Reise hatte zu spät begonnen. Sie zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen. In diesem Moment fiel neben ihr etwas zu Boden. Sie sah auf.
Ein Seil hing durch das Loch herab, dessen Ende zwei starke, braune Hände hielten. Dann erschien ein von einem
Khafiya
verhülltes Gesicht in der Öffnung.
»Ginesse!«, brüllte Jim Owens.
»Ja! Ich bin hier!«, rief sie und sprang auf. »Ja!«
»Bist du verletzt?«
»Nein!«
»Binde dir das Seil um die Taille und ruf, wenn du soweit bist. Beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit.«
Sie verschwendete keine Sekunde auf eine Antwort. Geschwind schlang sie das Seil um sich, band es fest und rief dann hinauf. »Fertig!«
Eine Sekunde später wurde sie nach oben gerissen. Sie umklammerte das Seil und dann wurde sie von Jims starken Armen durch das Loch ins Freie gezogen. Es blieb keine Zeit für Worte. Sie sah nach Westen und das Blut gefror ihr in den Adern. Eine riesige Wand aus aufgewirbeltem, wogendem Sand kam auf sie zugerast.
Er ließ sie auf die Füße fallen, ohne groß darauf zu achten, wie sie aufkam, drehte sich um und band das Seil vom Sattel des Arabers. Dann wandte er sich wieder zu ihr, fasste sie um die Taille und warf sie auf den Rücken des Pferdes. Er sprang hinter ihr in den Sattel, umfing sie mit den Armen und ergriff die Zügel.
Er beugte sich vor. »Halt dich fest!«, brüllte er durch das zunehmende Tosen des Sturms.
Und schon flogen sie dahin, schossen durch den sirrenden Staub. Der Sturm war schnell, aber der Hengst war schneller. Er streckte sich, trug den Hals fast waagerechtüber dem Wüstenboden, seine Beine schluckten die Entfernung, Schaumflocken stoben von seinen Nüstern. Sie sah und fühlte nicht, was Jim tat, um ihn zu lenken, doch der Hengst steuerte direkt auf die Felsformation zu und dann an der Steinwand entlang nach Osten, im Wettlauf mit dem Sturm.
»Such nach einem Unterschlupf!«, rief er ihr ins Ohr.
Hektisch suchte sie mit den Augen die Felsen ab, doch sie sah keine Öffnung, keinen Spalt oder ...
»Dort!« Sie streckte den Arm aus und deutete auf einen schmalen, kaum sichtbaren Riss im Gestein.
Auf einen unmerklichen Informationsaustausch hin warf sich der Hengst herum, galoppierte nun direkt auf die Felsen zu und verlangsamte das Tempo erst, als er sich dem schmalen Durchgang näherte. Jim ließ ihm keine Zeit zu zögern, er gab dem Pferd die Fersen und es setzte einen steilen Hohlweg hinauf, Steine und Geröll lösten sich unter seinen Hufen. Im letzten Moment bog der Hohlweg scharf nach rechts und führte unter einen gewaltigen Felsvorsprung. Darunter hatten Zeit und Wind eine breite, tiefe Tasche gegraben, nicht direkt eine Höhle, aber ein genauso guter Unterschlupf.
Jim sprang aus dem Sattel und führte sie auf dem Pferd hinein. Er sah zu ihr auf. Das helle Tageslicht wich einem schmutzigen Zwielicht, als der Sturm die Sonne verfinsterte. Schatten tanzten über Jims ernste Züge, über den angespannten Mund, die zusammengebissenen Kiefer und die klaren, grauen Augen. Noch nie war ihr ein Gesicht so willkommen gewesen.
»Du bist gekommen«, sagte sie und lächelte zittrig.
Seine Miene verdüsterte sich, als hätte sie ihn irgendwie beleidigt. »Ja«, entgegnete er brüsk. »Das habe ich dir doch gesagt, oder?«
Das war nicht die Antwort, auf die sie gehofft hatte. Sie hatte sich gewünscht, er würde sie in die Arme nehmen, überwältigt vor Freude, sie lebend gefunden zu haben und ... und sie küssen ... und ...
Er streckte die Arme aus, um sie vom Pferd zu heben, und sie beugte sich willig zu ihm hinab. Ihre Handflächen kribbelten, als sie sich um seine
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