Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Harrods vorbei. Walter stellte sich vor, daß er Harrods betrat und dort von einem schrecklichen Sehnen erfaßt wurde, so daß er nie wieder hinausgehen konnte. April und Jane riefen: »Da ist es! Mit Weihnachtsbeleuchtung! Phantastisch!« Es war eiskalt auf dem offenen Bus, doch die Kanadierinnen wurden von ihrer Ehrfurcht undAufregung warm gehalten. Walter war froh, daß er nicht allein war, besonders, als sie zur King’s Road kamen. Es hätte ihm gar nicht gefallen, wenn Gilbert den Touristenbus mit nur einem Kopf über der Brüstung hätte vorbeifahren sehen: dem seinen.
    Er sagte zu den Kanadierinnen: »Ich habe einen Freund, der hier ganz in der Nähe wohnt.«
    »Wirklich, Walter?«
    »Er ist Zahnarzt.«
    »Ja? In Medicine Hat hat mir mal jemand erzählt, daß die Engländer ihre Zähne vernachlässigen. Ist da etwas dran, Walter?« fragte Beth.
    Walter lächelte. »Ja, ich denke schon.«
    »Sie benutzen keine Zahnseide, nicht wahr?«
    »Was benutzen wir nicht?«
    »Zahnseide.«
    »Sie reinigen die Zahnzwischenräume nicht mit Zahnseide!« sagte Nettie.
    Walter erinnerte sich, daß Gilbert einmal darüber gesprochen hatte. Er schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich von Nettie und Beth ab und blickte auf die Straße hinunter. Dort herrschte lautes, buntes Treiben. Walter bekam Herzklopfen. Jeden Augenblick konnte einer der Menschen da unten die Gesichtszüge von Gilbert annehmen. Ein Mann in einer Bomberjacke oder aber in einem Pelz. Er würde sich verändert haben, schöner denn je sein. So war es jedenfalls in den Romanen seiner Mutter: Wenn der Held von seinen Großtaten am Niger zurückkehrte, war er hübscher und unwiderstehlicher als bei seiner Abreise.
    Doch der Bus fuhr weiter, an der Flood Street vorbei und zum Fluß hinunter, und nirgends war Gilbert zu sehen. Ein Teil von Walter fühlte sich grausam enttäuscht und der andere erleichtert. Diese Gefühle wechselten ab und gingen ineinander über wie Wellen. Er hielt sich am Sitz vor ihm fest. Die Sightseeing-Tour war fast zu Ende. Walter überlegte, ob er nicht im Bus bleiben und die ganze Tour noch einmal machensollte, so, wie er oft im Kino in Leiston sitzen geblieben war und den Spielfilm zweimal gesehen hatte. Doch Nettie und Co. würden aussteigen, und ohne sie würde er sich einsam und dumm fühlen.
    Es war schon spät, als Walter wieder zu Hause in Swaithey war. Er hatte geglaubt, daß Grace bereits schlafen würde, doch sie saß in ihrem Sessel und wartete auf ihn.
    »Nun, wie waren die Kronjuwelen?« fragte sie.
    »Schön«, antwortete Walter. »Sie haben sehr gefunkelt.«
    »Hat dir Mr. Blakey etwas von London gezeigt?«
    »Ja.«
    »Na gut, dann hast du es ja nun gesehen.«
    Walter setzte sich. Er fror und war erschöpft. Am liebsten hätte er seiner Mutter sofort und auf der Stelle gesagt: Ich kann hier nicht weitermachen. Ich bringe mich um, wenn du das von mir verlangst. Ich möchte ein eigenes Leben haben. Doch Grace beobachtete ihn wie eine Katze. In letzter Zeit hatte sie ihn öfter so aus ihrer Kabine im Laden angesehen – sie folgte mit den Augen jeder seiner Bewegungen. Es war, als wüßte sie, was in ihm vor sich ging.
    Pete wurde aus dem Ipswicher Krankenhaus entlassen. Eine der Schwestern hatte es ihm angetan. Er hatte geglaubt, er sei zu alt, um von Frauen zu träumen, doch das war nicht der Fall. Jetzt überlegte er, ob man vielleicht nie zu alt dafür war. Auch wenn sie einem Nase, Ohren und alle Gliedmaßen wegschnitten, hörte der Rumpf nicht auf zu träumen.
    Er zog in Josephines Zimmer. Im Kleiderschrank fand er einen alten Horlicks-Becher. Vom Fenster aus konnte er auf dem Feld seinen Bus sehen, der darauf wartete, daß alles wieder so wurde, wie es gewesen war. Pete wußte, daß er vergeblich wartete.
    Grace gab ihm eine Menge Fleisch mit Soße zu essen. Am Abend durfte er ein Schlückchen Whisky trinken. Er hatte Schmerzen und saß mit geschlossenen Augen am Kamin.Pete dachte: Das einzige, worauf ich mich freue, ist Walters neues Lied.
    Walter wollte es nicht noch mal vor Grace singen, da diese es morbid genannt hatte. So wartete er einen Abend ab, an dem sie an einer Whistrunde in der Pfadfinderinnenhütte teilnahm. Diese war aus Ziegeln neu erbaut worden und wurde jetzt vom Kassenwart der Konservativen und für Treffen des Kirchenrats genutzt. Dort erzählte man sich gelegentlich noch, wie Mary Ward einmal eine Tanzvorführung verpatzt hatte, indem sie in Gummistiefeln aufgetreten war. Doch jetzt lachte man

Weitere Kostenlose Bücher