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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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erheben uns von unseren Hintern. Wir sagen Dinge, die zu sagen wir nie für möglich gehalten hätten. Und selbst wir hier in Suffolk – lach nicht, Liv! – gehen, wenn nötig, auf die Barrikaden. Da wir keine Pflastersteine wie in Paris haben, schleudern wir Grasklumpen...«
    All sein Denken drehte sich um die Straßenkampagne, um Protest und Tapferkeit, so daß ihm die Anforderungen des Alltags nicht mehr wichtig erschienen. Ja, er hielt sie sogar für ein wenig sinnlos. Cord saß im Garten, dachte nach und träumte, und das Sommerunkraut schoß überall in die Höhe, ohne daß er es mitbekam.
    Timmy, der ihn besuchte, machte eine Bemerkung über das Unkraut. Cord sah erst Timmy an, dann blickte er auf das Unkraut. »Ach ja«, sagte er, »nun, alles zu seiner Zeit, nur darauf kommt es an.«
    Timmy besuchte ihn nicht oft, so als wüßte er, daß Cord Martin lieber hatte. Doch jetzt war er da, und Cord fiel plötzlich auf, daß Timmy einen verschreckten Eindruck machte. Er hielt in seinem Bericht über die neue Zeit der Tapferkeit inne und fragte: »Probleme, alter Tim?«
    »Ja, mit allem«, entgegnete Timmy.
    »Wieso mit allem?«
    »Mit dem Hof. Er ist am Ende.«
    »Sag das nicht. Er ist der Lebensinhalt deines Vaters.«
    »Ja, aber nicht meiner.«
    »Eines Tages wird er dir gehören.«
    »Ich will ihn nicht. Ich hasse ihn. Deshalb bin ich auch zu dir gekommen.«
    »Moment mal, Tim...«
    »Deshalb bin ich hergekommen. Um dir mitzuteilen, daß ich den Hof verlasse.«
    »Moment mal...«
    »Sag nicht, daß ich das nicht kann. Du hast gerade selbst von Protest gesprochen. Auch ich protestiere. Ich verabscheue und hasse den Hof. Ich will nichts anderes auf der Welt als Gott.«
    »Augenblick mal...«
    »Sag nicht immer Moment mal, Augenblick mal. Ich bin hier, um dich zu bitten, mir zu helfen.«
    »Wobei zu helfen?«
    »Ich möchte, daß du es meiner Mutter und meinem Vater sagst.«
    »Was soll ich ihnen denn sagen?«
    »Daß ich gehe. Ich habe mich an der Theologischen Fakultät beworben. Ich will Geistlicher werden.«
    Cord holte ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über das linke Auge – eine Angewohnheit aus der Zeit seiner Lähmung. Dann sah er Timmy an. Der Junge saß ganz vorn auf der Stuhlkante und hielt blinzelnd die Armlehnen umklammert.
    »Entspann dich, Tim«, sagte Cord freundlich. »Die Bürger hier haben mir zum Dank, daß ich mich um den Brief ans Verkehrsministerium gekümmert habe, eine Flasche Sherry geschenkt. Laß uns ein Gläschen davon trinken und in aller Ruhe darüber reden.«
    »Okay«, erwiderte Timmy. »Doch glaub nicht, daß es mir nicht ernst damit ist. Glaub nicht, daß du es mir ausreden kannst.«
    »Das würde ich im Traum nicht glauben. Mein Respekt vor dem Individuum wird mit jedem Tag größer.«
    Cord füllte zwei Gläser mit Sherry. Er wurde in fast jeder Hinsicht immer leichtsinniger. Er merkte, wie plötzlich schmerzlicher Neid in ihm aufstieg beim Gedanken an Timmys Jugend und all die Jahre, die noch vor ihm lagen. Er dachte: Wenn ich jung wäre, würde ich nicht Geistlicher werden. O nein. Ich würde mit Livia nach Paris fahren und Steine in die Luft schleudern. Ich würde mit ihr den Quai des Invalides hinunterrennen und zusehen, wie ihr Haar fliegt...
    »In Ordnung?« fragte Timmy.
    »Was meinst du mit ›in Ordnung‹?«
    »Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Ja«, sagte Cord. »Ich höre dir zu. Fahr fort.«
    Timmy lehnte sich zurück. Er sah Cord, der in großen Schlucken Sherry trank, nicht an, sondern legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke.
    Er begann seinen 90º-Winkel zu beschreiben. Er erklärte: »Er hat die Form unserer Schweineställe aus Wellblech. Es ist kalt und völlig dunkel darin. Schlammig. Voller Scheiße. Und ich kann nicht einmal aufstehen.«
    »Seit wann siehst du das so?« fragte Cord.
    Timmy erklärte die Sache mit den beiden Seiten oder Schenkeln des Winkels und was sie einmal bedeutet hatten. »Niemand kann ohne Licht leben. Ohne das Wunderbare.«
    »Da wirst du dich noch wundern!« sagte Cord.
    »Ich jedenfalls kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Da wäre ich lieber tot. Doch mein Vater versteht das nicht. Er wird denken, daß ich ihn im Stich lasse. Er wird nichts begreifen.«
    »Und deine Mutter?«
    »Sie wohl. Doch. Das heißt, ich weiß es nicht. Aber mein Vater wird es sein, der mich davon abhält, nicht sie.«
    »Wie kann er dich abhalten, wenn du fest entschlossen bist?«
    »Er wird es, irgendwie. Vielleicht

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