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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Timmy von Estelle einen Teller Dosenspaghetti serviert. Sie waren zu heiß zum Essen, und die schleimige Sauce war von einer Haut überzogen. Timmy legte den Löffel hin und wartete. Estelleaß Radieschen und eine Scheibe Brot mit Primula-Streichkäse. Ihr graues Haar war zu einem Knoten hochgesteckt. Ihre ganze Schönheit war dahin, und Timmy dachte: Wo gibt es noch etwas Schönes?
    Seine Gedanken wanderten zu den Sonntagen in der Kirche von Swaithey. Er sah und hörte den Kirchenchor und stellte sich vor, wie das Licht durch das Fenster mit dem Sämann fiel. Und in diesem Augenblick erkannte er, daß es seine ursprüngliche Vertikallinie vielleicht doch noch gab. Er konnte zwar nicht mehr wie ein Mädchen singen, aber beten. Es spielte keine Rolle, wie ein Gebet klang. Es war nicht einmal nötig, daß man es überhaupt hören konnte.
    »Woran denkst du?« fragte Estelle. »An das Hühnerfeld? An die Häuschen, die alle noch da sind?«
    »Nein«, sagte Timmy.
    An jenem Abend kramte Timmy in dem Schrank, in den seine ganze Kindheit Stück für Stück hineingeworfen worden zu sein schien. Er fand ein kleines, ledergebundenes Buch, das ihm Reverend Geddis geschenkt hatte, als er in den Stimmbruch gekommen war und den Kirchenchor verlassen mußte. Es hieß Für jeden Tag ein Licht auf den Weg . Es definierte sich als »ein religiöses Lehrbuch für alle Tage im Jahr, im Wortlaut der Bibel, mit weiteren Texten für besondere Anlässe«. Ein besonderer Anlaß war mit »Enttäuschte Hoffnungen« überschrieben. Timmy schlug die Stelle auf und las: »Wenn auch der Feigenbaum nicht blüht, die Weinstöcke keine Reben tragen, die Mühe mit dem Olivenbaum vergeblich war und die Felder keine Speise hervorbringen... so will ich doch Gott danken, meinen Erlöser preisen.«
    In Timmy stieg ein Lachen auf. Irgendwie war er unerwartet auf eine Quelle der Hoffnung gestoßen.
Was anderes
    Pete Loomis hatte über die Veränderung in seinem Gesicht gesagt: »Meine Nase macht nur, was sie will.«
    Was sie machte, war, daß sie einen Krebs ausbrütete.
    Sie wurde so groß wie eine dicke Erdbeere, dann so groß wie eine Limone. Pete hatte immer geglaubt, Krebs sei etwas Inneres, man könne ihn nicht sehen. Er hatte gemeint, wenn man etwas sah, dann konnte es kein Krebs sein, sondern nur etwas anderes ohne Bedeutung.
    Er wurde nach Ipswich ins Krankenhaus gebracht. Dieses lag auf einem Hügel, so daß man auf die häßliche Stadt blicken konnte. Pete stand in seinem Zimmer am Fenster und dachte: Und wenn das nun mein letzter Anblick ist?
    Um die riesige Krebsgeschwulst zu entfernen, mußten die Chirurgen Petes halbe Nase einschließlich eines Nasenlochs wegschneiden. Sie sagten, sie hätten den Krebs dadurch unter Kontrolle gebracht. Was von seiner Nase übrig war, bekam einen dicken Verband. Er sah aus wie ein Schneemann, dem etwas Weißes – eine Pastinake oder Kohlrübe – mitten ins Gesicht gesteckt worden war.
    Walter und Grace kamen ihn besuchen. Grace umklammerte die Handtasche auf ihrem Knie. Sie hatte ihm gelbe Chrysanthemen mitgebracht und sagte: »Wenn du hier rauskommst, Pete, wohnst du am besten eine Weile bei uns über dem Laden, jedenfalls so lange, bis du wieder bei Kräften bist. Du kannst Josephines Zimmer haben.«
    Doch das wollte Pete nicht. Er wußte, daß Grace eine gute Frau war, aber sie war auf eine Art und Weise gut, die ihm lästig war.
    Er erwiderte: »Das ist ein freundliches Angebot. Aber es ist ja nicht so, als ob ich ein Bein verloren hätte, nicht wahr? Ich komme schon zurecht im Bus.«
    »Ich glaube, ich muß darauf bestehen. Nicht wahr, Walter?«
    Walter war sehr still. Er sah Pete nur sorgenvoll, mit tränenfeuchten Augen an.
    »Du solltest lieber eine Weile bei uns wohnen, Pete«, sagte er schließlich. »Vergiß nicht, daß Winter ist.«
    »Na und?« erwiderte Pete grinsend. »Ich hätte in meinem Grab aufwachen können.«
    »Pst«, sagte Grace. »Nicht noch mehr Tote, Pete. Einer in der Familie ist ausreichend.«
    Pete schaute sie an. Das Mullkissen störte seine Sicht. Er blickte um das Hindernis herum in ihr faltiges weißes Gesicht, das wie eine getrocknete Lilie aussah, auf ihr ordentliches graues Haar und auf ihre Hände, mit denen sie ihre bei Cunningham erstandene Handtasche festhielt. Das ist es, was ich so schrecklich an ihr finde, dachte er, diese furchtbare Genauigkeit und daß sie »ausreichend« sagt und daß sich ihr Mund danach wieder so diszipliniert schließt.
    Die Stationsschwester

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