Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
noch, wie sie alle ganz still auf dem Feld standen?« Seine Anschuldigung, daß Hexerei im Spiel sei, hatte er vergessen. Manchmal schien er Marys Existenz überhaupt vergessen zu haben.
Das Feld, auf dem die Hühner gewesen waren, wurde nicht anderweitig genutzt. Sonny sagte: »Bau Raps an. Der hat Zukunft.« Doch das Feld wurde einfach brach liegengelassen. Brennesseln und Meerrettich schossen um die leerstehenden Hühnerhäuser in die Höhe. Timmy starrte darauf. Das Füttern der Hühner gehörte zu seinen frühesten Erinnerungen. Mary und er. Mary hatte den schweren Eimer mit den Körnern getragen. Die Hühner waren auf sie zugerannt und hatten sich um ihre Beine geschart. Mary hatte gesagt: »Stell dir vor, das wären Menschen und wir der Schah von Persien.«
Eines Abends erinnerte sich Timmy daran, wie er früher einmal sein Leben als einen 90º-Winkel angesehen hatte, die vertikale Linie sein religiöser Gesang, die horizontale sein Schwimmtraining. Es war ihm niemals klar gewesen, was zwischen den beiden Schenkeln des Winkels war, doch jetzt begriff er es: sein Eingesperrtsein auf dem verfallenden Bauernhof.
Es war schon spät. Im Haus war es ganz still und so feucht, als sickerte der Herbst durch den Verputz herein. Timmy zog den Morgenrock an. Er fand ein altes Schulheft, einen stumpfen Bleistift und ein Lineal und fertigte eine Zeichnung seiner Existenz an:
Als er sich so sah, ein winziges Strichmännchen in einem einseitigen Tunnel, stieg ein Würgen in seinem Hals auf. Er dachte: Ich bin hier, weil ich Angst vorm Turmspringen habe. Wenn ich den Mut zum Springen gehabt hätte und nicht nur ein Schwimmer gewesen wäre, dann wäre meine Mutter glücklich gewesen und hätte mir weiterhin die Stunden in der Marshall Street bezahlt. Doch Schwimmen allein genügte ihr nicht. Es interessierte sie nicht sonderlich. Sie hatte einmal gesagt: »Delphin ist ein häßlicher Schwimmstil, Timmy.« Daher ließ sie meinen Vater eingreifen und der Sache mit der Marshall Street ein Ende bereiten. Ich hatte geglaubt, die horizontale Linie ginge ins Unendliche, doch wie sich zeigte, war sie nur sehr kurz.
Er saß da und schaute auf den Winkel. Er konnte Sonny jetzt im Nebenzimmer, Marys früherem Zimmer, wo er nun schlief, schnarchen hören. Es war der Raum, den seine Mutter für ein Baby vorbereitet hatte, das sie dann aber nicht bekommen hatte. Sonny schnarchte unter den Babysachen, einem Tiger-Papierfries und dem Balsaholz-Mobile, das wie Glokkengeläut in den Bergen klang. Estelle hatte angeboten, alles herunterzunehmen, doch Sonny hatte gesagt, sie solle sich keine Umstände machen, ihm gefiele es so.
Mitleid mit seinen Eltern und Wut auf sie wechselten in Timmy ab. Jetzt, als er auf seinen Winkel blickte, dachte er,daß sie die beiden Linien waren, die ihn gefangenhielten: Estelle die senkrechte, mit ihrem Kopf irgendwo im Himmel, und Sonny die waagrechte, flach wie die Felder, ohne Ziel hoffnungslos immer weitergehend.
Es war die Zeit der Zuckerrübenernte. Rüben brachten gutes Geld, denn man liebte es jetzt süß und zuckrig. Rüben und Raps waren es, womit man Geld verdienen konnte – und Geflügelfarmen. Doch Timmy haßte es, die Rüben aus dem Boden zu holen. Sie stanken und saßen sehr fest. Es war, als grübe man Tote aus. Und die Maschinen waren häufig defekt. Das Förderband, das die Rüben auf den Lastwagen transportierte und sie dort auskippte, war ein verrücktes Ding. Die Bänder rissen, einzelne Rollen lösten sich oder drehten sich nicht mehr, trotz Sonnys stundenlangem Herumbasteln und Reparieren. Die Räder der Hebevorrichtung versanken im Schlamm. Und der Novemberregen ließ einen frösteln.
Estelle war zu Hause. Sie war jetzt in einer ruhigen Phase. Sie schrie nie herum und war höflich. So verkündete sie: »Ich beabsichtige, heute um 10.10 Uhr Match of the Day zu sehen.« Niemand konnte sagen, wie lange diese Phase anhalten würde.
Sonny ging selten zum Abendessen ins Haus. Er saß auf seinem Strohballen in der Scheune, kraulte den Hund hinter den Ohren und trank Guinness direkt aus der Flasche. Doch Timmy kam immer herein und setzte sich vor den RayburnKohleofen, und Estelle stellte ihm das Essen hin. Seit sie im Mountview gewesen war, backte sie kein Brot und kochte keine Fleischeintöpfe mehr. Sie bevorzugte jetzt Dosengerichte und weiches, in Scheiben geschnittenes Weißbrot in Plastiktüten. Außerdem war sie von fertiger Salatcreme begeistert.
Am Tag nach dem Winkelzeichnen bekam
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