Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
sie so taten, als wäre es sauber. Nach einer Weile meinte Mary: »Hoffentlich macht es dir nichts aus, Lügen zu erzählen.«
Harker nahm seinen Panamahut ab und schüttelte ihn aus. Wenn er diesen Hut trug, hatte er manchmal das Gefühl, ein Nagetier sei darin versteckt, das ihn jeden Augenblick in den Kopf beißen könnte. Er untersuchte den Hut, entdeckte aber nichts. Also setzte er ihn wieder auf und sagte: »Es macht mir nichts aus, deinen Psychiater anzulügen. Schwierig wird es, Irene anzulügen.«
»Ja. Dr. Beales spricht immer wieder von Irene. Er läßt sichnicht davon abbringen, daß er nicht nur mit dir, sondern auch mit ihr reden muß.«
Harker schüttelte den Kopf. »Ich könnte versuchen, es ihr zu erklären. Aber du kannst dir ja denken, was sie dann wissen will, nicht wahr? Sie wird nach dem Warum fragen. Und das weiß niemand. Nicht du, nicht ich, nicht die Ärzte. Das wird die harte Nuß.«
»Ich werde es eines Tages wissen. Irgendwann einmal. Das meine ich jedenfalls. Ich werde es schlagartig wissen. Das glaube ich ganz fest.«
»Vielleicht«, sagte Harker. »Vielleicht auch nicht. Die Welt ist voller Geheimnisse. Wir neigen dazu, das zu vergessen. Sie ist so vollgesogen davon wie Steine von Wasser.«
Dr. Beales begrüßte Harker herzlich. Seine Sekretärin brachte Kaffee. Mary blickte nicht auf die beiden Männer, sondern aus dem Fenster, auf den weiten blauen Himmel.
Eine Weile schien das Gespräch gut zu verlaufen. Harker erzählte Beales, daß es ihm, da er an Seelenwanderung glaube, nicht schwerfalle, das Rätsel Mary zu verstehen. Er war jedoch ein wenig nervös. Ohne danach gefragt zu sein, begann er über eines seiner früheren Leben zu sprechen. Er erzählte Dr. Beales, daß er Lautenspieler am Hof des dänischen Königs Christian IV. gewesen sei und zusammen mit den anderen Musikern in einem feuchten Keller unter den Palasträumen beim Schein von Kerzen spielen mußte. Der König hörte ihre Musik durch eine offene Falltür. Wenn er genug davon hatte, trat er gegen die Tür, so daß diese zufiel und die Kerzen der Musiker ausgingen und sie im Dunkeln saßen.
Beales schien diese Geschichte nicht zu interessieren; er hörte gar nicht richtig hin und ging auch nicht darauf ein. »Sie sagen, Sie verstehen Martys Dilemma. Ich gehe davon aus, daß Sie damit ein intellektuelles Begreifen meinen. Was ich wissen muß, ist, ob Sie ihr zur Seite stehen, wenn sie sich auf die lange Reise begibt, ihren Körper zu verändern und zu rekonstruieren.«
»Ja«, erwiderte Harker, »das werde ich. Mary, oder Marty, wie Sie sie nennen, hatte eine schwierige Kindheit, und ich habe immer gehofft...«
»Sie sagen, sie hatte eine schwierige Kindheit. Warum war sie denn so schwierig?«
»Aus Gründen, die sie Ihnen wahrscheinlich schon dargelegt hat. Ihre Überzeugung, im Grunde ihres Wesens kein Mädchen zu sein, machte alles sehr schwierig für sie.«
»Inwiefern?«
»Nun ja. Inwiefern? Nun ja. Wir erwarten von Mädchen ein anderes Verhalten als von Jungen, und daher...«
»Beschreiben Sie es!«
»Wie bitte?«
»Beschreiben Sie den Unterschied zwischen den beiden Verhaltens- oder Erwartungsmustern.«
»Nun, ich weiß nicht, ob ich das so genau kann, aber...«
»Versuchen Sie, möglichst genau zu sein.«
»Nun, die Kleidung zum Beispiel!«
»Die Kleidung?«
»Ja. Mary hat es von klein auf gehaßt, Kleider zu tragen. Meine Frau hat mir von einem Anlaß erzählt – Mary war damals vielleicht sechs oder sieben –, bei dem sie sehr unter dem Tragen eines gesmokten Kleides gelitten hat.«
»Sie waren nicht dabei?«
»Nein. Aber...«
»Können Sie sich an einen Anlaß erinnern, bei dem Sie dabei waren und Ihre Tochter ähnlich gelitten hat?«
»Ja. An viele. Sie sagte immer, sie sehe häßlich aus, komme sich dumm vor...«
»Sie gebrauchten das Wort Verhalten. Die Kleidung beeinflußt dieses zwar in gewisser Hinsicht, doch kann man sie nicht als solches definieren . Welche Erwartungen, die man an sie hinsichtlich ihres Verhaltens stellte, waren es, die ihr Unbehagen bereiteten?«
»Hm. Spielzeug und Spiele, würde ich sagen. Wir erwarteten, daß sie mit Puppen spielte, Mutter und Kind...«
»Und das wollte sie nicht?«
»Nein. Das interessierte sie nicht.«
»Sie bestanden aber darauf.«
»Nein. Eigentlich nicht...«
»Woher kam dann das Unbehagen?«
Mary sah Harker an. Er zog eines seiner vertrauten Taschentücher mit Ölgeruch aus der Hosentasche und wischte sich damit übers
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