Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
auf dem Fahrrad.
    Sie setzte sich aufs Bett, zündete sich eine französische Zigarette an und dachte an den schimmernden Fluß und die Hitze in Dr. Beales’ Zimmer. Dort waren all ihr Hoffen und ihre ganze Zukunft gewesen, was sie erst jetzt, da sie nicht mehr dort und auch sonst nirgendwo waren, richtig erkannte.
    Sie schien nichts weiter tun zu können, als zu rauchen und vor sich hin zu starren. Es war Freitag. Sie würde das Wochenende damit verbringen, auf all ihre schwarzweißen Sachen zu starren.
    Sie hatte keine Pläne. Nur den ewigen Plan, Martin zu werden. Beim Rauchen der dritten Gitane fiel ihr Pearls Brief wieder ein. Sie zog ihn aus der Tasche und sah auf die runde, kindliche Schrift auf dem Umschlag. Sie war froh, jetzt auf etwas zu blicken, was ihr etwas sagen und nicht stumm wie das Zimmer bleiben würde. Aus einem früheren, im Halbdunkel liegenden Leben heraus hörte sie Miss McRae fragen: »Was macht dieses Baby in meiner Stunde, Mary?« Beim Gedanken daran mußte sie lächeln.
    Sie öffnete den Brief, wischte die Brille am Ärmel ab und las:
    Liebe Mary,
    ich gebe diesen Brief Edward mit. Ich weiß, daß etwas nicht stimmt, doch er erzählt mir nicht, was es ist. Bitte schreib und sag es mir! Ich habe Montgolfier und das Universum nicht vergessen. Ich möchte nicht, daß Du unglücklich bist.
    Ich mache gerade meinen Schulabschluß. Am besten bin ich in Biologie und am schlechtesten in Englisch. Ich habe keine Phantasie. Wir lesen ein Buch von Joseph Conrad, das »Der Freibeuter« heißt und das ich nicht verstehe. Selbst ein paar Sätze verstehe ich nicht. In einem geht es um Réals Misanthropie.
    In der Biologie ist alles in Reiche eingeteilt. Da ist zum Beispiel ein Reich der Pilze. Im Tierreich gibt es eine Untergruppe der Einzeller. Dazu gehört der Plattwurm. Ein Plattwurm führt sein Leben in anderen Lebewesen, z.B. in einer Schnecke, dann in einem Fisch und schließlich in der Leber eines Menscben. Ich finde das interessanter als das über Réals Misanthropie. Du nicht auch? Stell Dir Plattwürmer in Menschen vor!
    Edward meint, daß ich vielleicht einmal für einen Tag nach London fahren und mit Dir ins Natural History Museum gehen könnte. Ginge das? Mum ruft gerade: Pearl, wenn du jetzt nicht kommst, gebe ich dein Abendessen Billy!
    (Ich schreibe später weiter.)
    Später
    Jetzt noch ein paar Neuigkeiten.
    Als ich neulich abends in die Kirche von Swaithey ging, um die Blumen zu gießen, war Timmy da, ganz allein. Er betete. Er hatte mich wohl nicht bemerkt. (Entschuldige den neuen Füller.) Während ich mich um die Blumen kümmerte, fing er zu weinen an. Ich ging zu ihm hinüber und setzte mich mit der Gießkanne neben ihn. Er hörte nicht auf zu weinen. Dann erzählte er mir, daß er jetzt in einem Fernkurs Theologie studiere. Er möchte Geistlicher werden und sich nicht auf dem Hof zu Tode rackern. Ich kann ihn mir nicht als Pfarrer vorstellen. Du? Er ist zu klein. Dein Vater kann es sich auch nicht vorstellen. Er denkt, daß ihn Timmy nur ärgern will, und hat erklärt, daß er den Hof nicht verkaufen wird, solange er lebt. Timmy hat zu mir gesagt: »Pearl, er will einfach nicht wissen, wie es in mir aussieht.« Ich habe erwidert: »Vermut lich war er wie ich nicht gut in Englisch und hat keine Phantasie. Desbalb ist er ja auch Bauer geworden.« Timmy hatte kein Taschentuch. Ich auch nicht. Er hatte die ganzen Hände voll Rotz.
    Ich hoffe, es ist Dir recht, daß ich nach London komme und mit Dir ins N. H. Museum gehe. Und Earl’s Court sehe, wo Du wohnst.
    Ich hoffe, Du bist okay. Was hältst Du von Brian Poole und den Tremolos?
    Bitte schreib mir!
    In Liebe
    Pearl
    Mary las den Brief noch einmal, dann noch einmal und noch einmal. Sie konnte nicht sagen, warum er tröstlich war. Sie las ihn immer wieder, bis sie müde wurde. Dann drückte sie die Zigarette aus und zog die Vorhänge vor das, was vom Abend im lichtlosen Lichtschacht noch übrig war.
    Sie kleidete sich nicht aus, sondern ging in Jeans ins Bett. Sie legte Pearls Brief aufs Kopfkissen, dann ihren Kopf auf den Brief und schlief kurz darauf ein.

13. Kapitel
    1970
Estelle:
    Nichts geschieht in Swaithey.
    Wir machen weiter. Wir versuchen die Welt zu enträtseln. Der Ostwind bläst von Murmansk. Manches geht über unsere Köpfe hinweg: Düsenjäger, Nachrichten aus Island.
    Und eines Tages fand dann eine Tragödie statt.
    An einem Freitagabend nahm Walter Loomis den Strohhut ab, den ihn Grace im Laden tragen ließ, und

Weitere Kostenlose Bücher