Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Tintenfaß sah, weil es so selten benutzt wurde, recht stumpf aus.
Dr. Beales kam erst nach ein paar Minuten zum Schreibtisch zurück. Er lächelte leise vor sich hin, als hätte er auf dem Themsewasser von Twickenham etwas Amüsantes gesehen. Dann blickte er Harker freundlich an und legte den Ellbogen auf den passenden Löscher, so daß er seine Notizen verdeckte. Zu Marys Überraschung kehrte er zum Thema der Wiedergeburt zurück. Das Wort »vernichten« schien ihm entfallen zu sein.
Er ließ sich von Edward Harker sein Leben als Nonne beschreiben und schien aufmerksam zuzuhören, als Edward von seinem Klosteralltag erzählte, von der Teerseife, seiner Liebe zu den Psalmen und der eisigen Kälte seiner Hände. Mary konnte die Erleichterung aus Harkers Stimme heraushören. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und glaubte offenbar, daß das Lügen jetzt ein Ende hatte. Doch Mary hatte Beales’ Lächeln gesehen. Er würde Harker reden lassen und dann wieder auf ihre Kindheit kommen.
Doch er kam nicht darauf zurück. Er hörte höflich zu, bis Harker alles erzählt hatte, was er noch von seinem Leben als Nonne wußte, dann stand er erneut auf, dankte Harker für sein Kommen und bat ihn, kurz im Wartezimmer Platz zu nehmen. Harker machte einen verwirrten Eindruck. Er strich sein zerknittertes Leinenjackett glatt und fing an, sich für sein schlechtes Gedächtnis zu entschuldigen. Doch Beales schnitt ihm das Wort ab. Er lächelte jetzt nicht mehr. Er sagte: »Warten Sie bitte draußen. Vielen Dank!«
Als Harker das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Beales wieder hin und schloß die Augen. Mit geschlossenen Augen sah er nicht mehr wie ein Kätzchen oder Fuchs aus, sondern wie ein dünner Cäsar, der darauf wartete, daß sein Kopf in Bronze gegossen wurde.
Er hielt die Augen noch immer geschlossen, als er sagte: »Hiermit haben Sie Ihre Sache mindestens um sechs Monate zurückgeworfen, vielleicht sogar ganz zunichte gemacht.«
»Was habe ich denn getan?«
Beales ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Es bedeutet, daß meine ganzen Notizen wertlos sind.«
Müde öffnete er die Augen, holte ein paar Seiten aus Marys Akte und verteilte sie über den Schreibtisch.
»Warum?« fragte Mary.
»Warum? Sie wissen, warum.«
»Nein...«
»Weil Sie gelogen, erfunden, Geschichten erzählt haben. Ihre Eltern sind nicht tot. Ihre Eltern sind John ›Sonny‹ Ward und Estelle Maria Ward, geborene Cord. Sie leben auf der Elm Farm, Swaithey, in Suffolk. Sie haben ihren Tod erfunden, und Sie haben diesen liebenswürdigen Vater erfunden. Ich schließe daraus, daß alles, oder zumindest ein Teil dessen, was Sie mir erzählt haben, erfunden ist. Das macht alle unsere Sitzungen wertlos. Ich hatte Sie vor dem Lügen gewarnt. Da haben wir es nun! Sie müssen sich jemand anders suchen, der Ihren Fall übernimmt – wenn es Ihnen gelingt. Ich jedenfalls habe keine Zeit mehr für Sie.«
Mary spürte einen schweren Druck auf der Brust. Sie dachte: So fühlt man sich vielleicht – wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde –, wenn man eine Kugel in die Brust geschossen bekommen hat. Man sieht seinen Mörder ungläubig an, so wie sie jetzt Dr. Beales, dann fällt man um und hört auf zu sein.
Am Bahnhof sagte Edward: »Ich habe dich im Stich gelassen. Es war mein Fehler.«
»Nein«, erwiderte Mary. »Er kannte von Anfang an die Wahrheit. Egal, was du gesagt hättest, es hätte keinen Unterschied gemacht.«
»Was wirst du nun tun?«
»Mir einen anderen suchen.«
»Wird das schwierig sein?«
»Alles ist schwierig, Edward. Und ich wünschte, alles wäre anders.«
Harker küßte Mary auf den Kopf. Dann stieg er in den Zug, der im staubigen Licht wartete. Er nahm Platz und hatte das Gefühl, alt und ein Narr zu sein.
Er winkte Mary zu, die auf dem Bahnsteig stand und sein Winken erwiderte. Sie winkten im Glauben, der Zug fahre an, doch das erwies sich als Irrtum. Er wurde nur um ein paar Meter rangiert. Sie kamen sich nach ihrer Winkprobe dummvor, so daß sie, als sich der Zug dann wirklich in Bewegung setzte, nur zögernd die Hand hoben, für den Fall, daß es sich wieder um eine Scheinabfahrt handelte.
Mary ging zu ihrem Zimmer zurück. Sie stellte sich in dessen Mitte und blickte auf ihre Habseligkeiten. So lange schon bereitete sie den Raum für Martin Ward vor. Sie hatte ihre Federzeichnungen vom Krieg an die Wände geklebt und die Zimmerdecke schwarz gestrichen. Über dem Kocher hing eine Fotografie von Jeanne Moreau
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