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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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›bald‹ oder ›später‹ oder ›im nächsten Jahr‹«, sagte er. »Wann wird es heute sein?«
    Ich hielt im Kirschenessen inne. Nach einer Weile erklärte ich: »Ich weiß es nicht. Ich werde es wissen, wenn es soweit ist.«
    Walter Loomis kam mich besuchen. Er war sehr dünn geworden und hatte langes, zottiges Haar. Er sah aus, als ginge er vor die Hunde, doch er sagte, das tue er nicht, es trenne ihn vielmehr nur noch eine Woche vom Beginn seines eigentlichen Lebens.
    Er saß lange Zeit bei mir am Krankenbett. Dabei aß er drei Orangen und alle Kekse, die mir auf einer Untertasse zum Tee gebracht wurden. Er trug seine Cowboykleidung, alles bis auf den Hut, und roch unsauber und verschwitzt.
    Ich fragte ihn, wie er das Geld für den Flug nach Nashville aufgetrieben habe.
    Er antwortete: »Erinnerst du dich an Gilbert Blakey?«
    »Ja. Niemand vergißt seinen ersten Zahnarzt.«
    Er lachte und meinte: »Das war ein hohles Lachen, Martin, kein echtes.«
    Dann erzählte er mir von seiner Liebesaffäre mit Gilbert. Es sei wegen des Todes zweier bedeutender Staatsmänner, John F. Kennedys und Anthony Edens, dazu gekommen. Er berichtete von den Sportfelgen an Gilberts Wagen und davon, wie Gilbert seiner aus unerfindlichen Gründen plötzlich überdrüssig geworden sei.
    »Neulich wurde mir klar, daß mir Gilbert noch etwas schuldete. Also ging ich zu ihm hin.«
    »Das finde ich sehr mutig von dir, Walter. Ich kann es nämlich nicht ertragen, zurückzublicken.«
    »Du solltest sehen, wo er jetzt arbeitet. Im Wartezimmer hängen Ölgemälde, und der Tatler liegt aus.
    Seine Sprechstundenhilfe sagte: ›Sie sind aber nicht angemeldet, Mr. Loomis‹, woraufhin ich erklärte: ›Doch, doch. Schon seit 1963.‹
    Ich weigerte mich, wieder zu gehen. Ich erklärte, ich würde sitzen bleiben und Zeitschriften lesen, bis entweder der dritte Weltkrieg ausbrach oder Mr. Blakey mich empfing. Ich sagte, ich sei es gewöhnt, nichts zu essen zu haben.«
    Walter hatte die ganze Zeit sein leeres Lächeln im Gesicht. Ich überlegte, ob die Leute in Nashville Walter Loomis wohl in ihr Herz schließen oder sich vor Lachen über ihn ausschütten würden. »Erzähl weiter, Walter.«
    »Nun«, fuhr er fort, »so gegen sechs, als sein letzter Patient gegangen war und ich alle Hefte von Country Life und Harper’s Bazaar durchgeblättert hatte, kam Gilbert. Er sah merkwürdig aus. Sein Haar schien gefärbt zu sein, und er wirkte viel älter. Er sprach sogar anders. Nur noch Blabla.
    Ich erzählte ihm von meinen Plänen, nach Nashville zu gehen. Er sagte in seinem Blablaton: Warum denn um alles in der Welt dorthin! Ich versuchte also, ihm zu erklären, daß ich etwas vom Leben haben wollte, bevor es zu spät war.
    Ich drohte ihm. Ich sagte, ich würde seinen piekfeinen Patienten erzählen, wer er war und was er tat. Er machte da schon einen recht mitgenommenen Eindruck. Ich wollte sagen: Das ist Suez, verpfusch es nicht. Doch dann merkte ich, daß ich gar nicht mehr genau wußte, wie es mit Suez eigentlich gewesen und was da vermasselt worden war. Das sollte er nicht merken. Er ist ja viel klüger als ich.«
    Walter bekam das geforderte Geld. Einhundertfünfzig Pfund waren nicht viel für Gilbert Blakey mit seiner schicken Praxis in Chelsea, und vermutlich hatte er schon seit Jahren auf die Nachricht gewartet, daß Walter England verließ. Vorsichtshalber. Er wußte, daß »vorsichtshalber« manchmal eintraf, genauso wie »bis auf weiteres«.
    Walter hatte bereits sein Flugticket. Er erzählte mir, daß er Angst vorm Fliegen habe, jedoch hoffe, daß sich jemand um ihn kümmern und ihm sagen werde, wo die Toiletten seien und wie man in New York vom einen ins andere Flugzeug wechsle. Er wollte in vier Tagen fliegen. Er hatte Pete und Grace geschrieben, daß er abreisen würde, doch nur Pete hatte geantwortet. Die Mitglieder des Country-musicVereins von Latchmere hatten ihm einen alten Stadtplan von Nashville gegeben und ihm die ersten Zeilen der Unabhängigkeitserklärung beigebracht. Er sagte: »Ich wünschte, ich hätte schon vor Jahren gewußt, daß das Streben nach Glück ein Recht ist. In Swaithey war es das nicht, nicht wahr?«
    »Nein«, erwiderte ich, »es war ein Unrecht.«
    Als Walter sich zum Gehen wandte, ließ er den Blick durchs Krankenhauszimmer wandern. Ich dachte, er suche noch etwas Eßbares, doch er erklärte, er habe es sich angewöhnt, sich alles genau anzusehen und sich so nach und nach von England zu verabschieden. Dann

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