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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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halten, versuchte ich an die Bäume in Tennessee zu denken und fing mit dem Hickory an. Mir kam es so vor, als müßte ich lange auf Pearl warten.Ich hörte, wie das Leben im Lichtschacht seinen Lauf nahm, doch ich hatte das Gefühl, daß mein Leben erst weitergehen konnte, wenn Pearl zurück war.
    Sie kam mit einer Tasche voller Lebensmittel ins Zimmer und meinte: »Hoffentlich magst du Currysuppe. Edward erinnert sie immer an Indien.«
    Sie zog ihren weißen Mantel an und kochte die Suppe, die sie lächelnd umrührte. Ich wünschte, sie würde sich umdrehen und mich anlächeln, doch das tat sie nicht. In diesem Augenblick erriet ich, daß sie ein Geheimnis vor mir hatte.
    Das Geheimnis war der Sturm am Horizont, den ich in meinem schönen Traum vom Floß gesehen hatte, und ich setzte mich im Bett auf und schaute mich überall in meinem Zimmer nach einer Rettungsweste um, konnte aber keine finden.
    Man glaubt immer, nachts in seinem Bett könne einem nichts passieren, es sei denn, man stirbt. Man sagt: »Gute Nacht, bis morgen früh.«
    Ich wußte, daß in dieser Nacht etwas geschehen würde. Und ich wußte auch, was es sein würde – Pearl würde mir ihr Geheimnis verraten. Doch ich kannte das Geheimnis nicht und ahnte nicht, was es mir antun würde.
    Wir aßen die Currysuppe und dazu ein Butterbrot. Ich nahm ein paar Tabletten, und der Schmerz ließ nach, doch ich wußte, daß er noch in mir war und auf der Lauer lag. Wir spielten Karten, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. In Gedanken war ich bei der hereinbrechenden Nacht.
    Pearl half mir, aufzustehen und mich zu waschen. Sie machte mein Bett und zog ihr weißes Nachthemd an. Wir legten uns hin, ich ins Bett, Pearl auf die Sofakissen auf dem Fußboden, und ich löschte das Licht. Ich sagte nicht: Gute Nacht, Pearl, bis morgen früh. Ich wartete und wagte kaum zu atmen.
    Als dieses Geheimnis dann herauskam, war es wie eine Ratte, die ins Zimmer sprang und mich terrorisierte. Ichsuchte nach einer Waffe. Ich spürte, wie meine Brustnähte aufrissen.
    Ich griff nach allem, was in meiner Nähe war: mein Buch, meine Lampe, meine Invalidenkissen, die Vase mit den Kornblumen. Alles, eins nach dem andern, schleuderte ich auf die Ratte. Ich schrie. Lauter als all die anderen Nachtschreier dort draußen im schwarzen Schacht. Lauter als an dem Tag, an dem Sonny mir die Bandagen wegriß.
    Das Wort, das ich schrie, war: NEIN!

Vierter Teil

16. Kapitel
    1973
Doodle-ei-dip
    Im Herbst des Jahres 1972 kam Walter Loomis in der Stadt an, die als die Musikstadt der USA gilt.
    Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte ihn der Gedanke an den amerikanischen Herbst nicht mehr losgelassen. Eine Jahreszeit zum Träumen, hatte Pete gesagt.
    Doch er träumte nicht. Er ließ sich neue Absätze auf seine Stiefel machen. Der Boden von Tennessee unter seinen Füßen war fest und hart. Aber die Helligkeit des Lichts machte ihn ganz benommen. Er konnte kaum zum Himmel schauen. Am Flughafen hatte er den Bus zum Zentrum von Nashville genommen. Dieser hatte so merkwürdige Geräusche gemacht, als hätte er irgendwo einen Schiffsmotor und sollte eigentlich auf dem Wasser sein. Abgesehen vom Fahrer war er der einzige Weiße im Bus. Die schwarzen Passagiere fuhrwerkten und zappelten herum. Was sie gerade noch in ihren alten Gepäckstücken verstaut hatten, holten sie kurz danach schon wieder heraus. Sie sprachen leise, wie Leute, die sich über den Brotpreis beklagen. Einer von ihnen pfiff vor sich hin.
    Auf dem Weg in die Stadt hielt der Bus mehrmals an. Einige der schwarzen Passagiere stiegen aus und liefen auf eine Reihe kleiner, niedriger Häuser zu. Es waren Holzhäuser, die alle eine Holzveranda, eine Schaukel und einen Hof voller Gerümpel hatten. Man hätte meinen können, hier wachse amStraßenrand Gerümpel statt Blumen. Walter fiel ein, daß die Amerikaner die Erde mit »dirt« – Schmutz – bezeichneten.
    Es war früh am Nachmittag. In England war der Tag schon gekommen und wieder vergangen, im Schweigen versunken. Walter stellte sich vor, wie der Wind in Suffolk Petes Bus schaukelte und Grace oben in ihrem Zimmer in ihrem Viyella-Nachthemd regungslos schlief. Es schien eine Riesenentfernung zwischen ihm und seinen Vorstellungen zu liegen.
    Er war sehr müde, konnte es sich aber nicht erlauben, dem nachzugeben. Es stand noch so viel auf dem Programm, das die Mitglieder des Country-music-Vereins von Latchmere für ihn ausgearbeitet hatten. Nur einer von ihnen war schon mal in

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