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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Nashville gewesen, doch alle anderen hatten so viel davon gelesen, gehört oder geträumt, daß sie sich dort auszukennen meinten. Sie hatten zu Walter gesagt: »Wenn Sie in Nashville ankommen, mein Lieber, kaufen Sie sich als erstes eine Lokalzeitung, um eine Unterkunft zu finden. Es gibt dort Pensionen mit preiswerten Zimmern, die von Familien oder Witwen geführt werden.
    Als zweites machen Sie sich auf den Weg zum Lower Broadway, auch Lower Broad genannt. Das ist die Straße, wo all die kleinen Bars und Schuppen sind. Die Leute da sind nett zu Nachwuchssängern, weil diese ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Man weiß also dort, was Sie brauchen und wie man Ihnen helfen kann.
    Und drittens stellen Sie sich allen Leuten vor. Sagen Sie: Hallo, ich heiße Walter Loomis und komme aus England. Ich hoffe, hier in Nashville eine Chance zu erhalten. Sagen Sie immer ›hier in Nashville‹, nicht einfach ›in Nashville‹, denn man fügt dort gern ein › hier ‹ hinzu, mein Lieber. Sie betonen immer das Hier und Jetzt. So, als wären sie im Himmel und wollten, daß auch Sie das wunderbar finden, und deshalb sagen sie: hier im Himmel. Verstehen Sie, was wir meinen, Walter?«
    Er verstand es jetzt. Wegen des unendlichen Glanzes, der über allem lag, und der flammenden Farben der Bäume hatteer wirklich das Gefühl, in einer Art Himmel zu sein. Als der Bus im Depot ankam, ging er mit seiner Gitarre und seinem Koffer zu einer Bank und setzte sich blinzelnd hin. Er dachte: Ich werde mich an den Plan halten, doch es wird seine Zeit brauchen. Zunächst einmal müssen sich meine Augen an das Licht gewöhnen.
    Er fand ein Zimmer in einem großen Haus auf der Greenwood Avenue. Es hatte keinen Namen, sondern nur die Nummer 767. Es gehörte einem Mr. und einer Mrs. Pike. Als er drei Monate dort und der trockene Herbst vorbei war, sagte Mrs. Pike zu ihm: »Walter, Sie haben sicher schon bemerkt, daß wir im Süden sehr formell sind. Doch Sie sind Mr. Pike und mir sympathisch, mein Lieber, und wir würden uns freuen, wenn Sie uns beim Vornamen nennen würden: Audrey und Bill C.«
    »Oh«, stieß Walter aus. »Meinen Sie wirklich?«
    »Ja. Wir haben es besprochen.«
    »Audrey und Bill C.«
    »Richtig.«
    »Wofür steht das C., Mrs. Pike?«
    »Audrey, Walter.«
    »Ach ja, Audrey.«
    »Nun, das C. steht für Clement, mein Lieber. William Clement Pike. Aber mit diesem Namen kam Mr. Pike nie zurecht. Seit er sprechen kann, ist er Bill C.«
    Walters Zimmer lag im Erdgeschoß auf der Rückseite des Hauses. Er blickte auf einen Gemüsegarten, wo Audrey Pike Wassermelonen und Erbsen anbaute. Hinter den Erbsen waren drei Kastanien, die sie immer Schattenbäume« nannten. Es wurde Walter zur Gewohnheit, an dem kleinen Tisch am Fenster zu sitzen, sich Lieder auszudenken und auf die Schattenbäume zu blicken. Manchmal sah er scharlachrote Vögel in diese hineinfliegen. Beim erstenmal dachte er, sie seien einem Vergnügungspark entwichen.
    »Aber nein, mein Lieber!» hatte Audrey Pike lachend ausgerufen. »Das sind rote Kardinäle. Die gibt es hier fast überall. Achten Sie einmal darauf, Walter.«
    Und er achtete darauf. Nicht nur auf die Kardinäle. Er achtete auf alles, was sich bewegte, auf alles, was es gab. Er wußte, daß jetzt sein Leben angefangen hatte, zwar mit einigen Jahren Verspätung, aber wenigstens hatte es angefangen, bevor es zu Ende ging. Er durfte sich daher nichts entgehen lassen. Er legte sich spät schlafen und wachte früh auf. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
    Bill C. war Dachdecker. Seine Lieblingsjahreszeit war der Winter, wenn es stürmte und blies. Er sagte zu Walter: »In Nashville kann man gut von den Dächern leben, mein Sohn. Wir haben es eigentlich nicht nötig, Zimmer zu vermieten. Aber meine Frau macht das gern. Sie setzt ihren ganzen Ehrgeiz darein, gute Zimmer anzubieten, und es gefällt ihr, daß sie dadurch mit anderen Menschen zusammenkommt; Gott hat uns ja keine eigenen Kinder geschenkt. Und daß Sie, Walter, aus England sind, gefällt ihr besonders. Sie ist nie dort gewesen, fand aber diese Butler-Geschichten immer so lustig. Außerdem macht es ihr Freude zu helfen.«
    »Dafür bin ich sehr dankbar«, sagte Walter.
    »Sehen Sie«, erklärte Bill C., »in Nashville wird fast alles mündlich geregelt. Nun, es ist eben eine kleine Großstadt!«
    Audrey fand in der Nachbarschaft einen Job für Walter: Laub zusammenzurechen. Er arbeitete nur an den Vormittagen. Als alles Laub zusammengerecht

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