Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
sagte er: »Ich möchte dir viel Glück für dein Leben als Martin wünschen.«
»Vielen Dank, Walter.«
»Vermutlich werden wir uns nie wiedersehen, nicht wahr?«
»Nein. Aber schick mir mal eine Postkarte. Schreib mir, wie du in der Music City zurechtkommst.«
Er grinste.
Mir fiel wieder ein, wie ich ihn manchmal lächelnd zum Himmel blickend im Schlachthof gesehen hatte.
»Schon bei diesem Namen überläuft mich ein Schauer«, sagte er.
Dann war er weg. Nur sein Geruch blieb. Als die Schwester, eine Inderin, hereinkam, öffnete sie das Fenster.
Ich hatte Pearl über meine Operation informiert. Sie schien weder schockiert noch traurig zu sein und schrieb mir: »Wenn Du aus dem Krankenhaus kommst, besuche ich Dich. Ich bleibe dann eine Woche und kümmere mich um Dich. Du kannst das Bett haben, ich schlafe auf dem Fußboden. Zu meiner Ausbildung gehört auch Erste Hilfe und Wiederbelebung. Ich bin bestens geeignet, Dir zu helfen.«
Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause. Ich fühlte mich nochrecht schwach. Wenn ich etwas hochhob, taten meine Wunden weh. Ich dachte daran, wie viele Operationen und Schmerzen mir noch bevorstanden, und mir kam der Gedanke, den ich nur ganz selten einmal in mir aufkommen lasse: Warum konnte nicht alles einfacher sein? Warum konnte ich mich nicht schlicht damit abfinden, Mary Ward zu sein?
Die Antworten lauteten: Weil es eben nicht einfacher war. Weil ich es nicht konnte. Weil ich Mary Ward nicht bin. Und niemand – Harker nicht, Sterns nicht, ich nicht – hat eine bessere Erklärung. Wir alle haben lediglich Theorien. Es bleibt eines der Millionen Geheimnisse, die es auf der Welt noch gibt.
Zu Hause in meinem Zimmer wartete Pearl auf mich. Sie trug einen in der Taille mit einem Gürtel zusammengehaltenen weißen Mantel. In eine Glasvase hatte sie ein paar Kornblumen gesteckt. Sie sagte: »Hier Unfallstation 10.«
Ich küßte sie aufs Haar. Wären nicht die Schmerzen gewesen, hätte ich Pearl sicher die Arme um die Taille gelegt, und wir hätten Wange an Wange, wie ein Tanzpaar, dastehen und die Zeit verrinnen lassen können.
»Wie fühlst du dich, Martin?« fragte sie.
Sie nannte mich zum erstenmal Martin.
»Ich bin froh, daß du hier bist«, sagte ich.
»Ich habe überhaupt keine Kraft.«
Sie hatte mein Zimmer aufgeräumt. Meine Tuschfarben standen in Reih und Glied, und meine Skizzen waren ordentlich gestapelt. Und mein kleiner Kocher glänzte.
Ich setzte mich aufs Bett. Im Stehen fühlte ich mich doch noch recht unwirklich. Kalter Schweiß brach mir auf dem Kopf aus. Ich erlaubte Pearl, mich auszuziehen. Ich war zu schwach, um Scheu aufkommen zu lassen. Sie faltete meine Kleidungsstücke zusammen und legte sie auf einen Stuhl. Dann half sie mir in den Schlafanzug, und ich streckte mich auf dem Bett aus. Es war erst gegen Mittag, doch ich hatte das Gefühl, als wäre es schon unendlich viel später. Pearl fragte:»Soll ich dir etwas vorlesen?« Doch ich konnte nicht antworten. Mir fiel ein Reim ein, den mir meine Mutter beigebracht hatte, als ich zwischen ihr und Sonny in der Bettkuhle geschlafen hatte; die Worte legten sich wie ein Schleier über mein Denken.
Zwinkern und Nicken in der Nacht
Segelten im Holzschuh einher
In ein Land voll Licht und Pracht,
Ein blaues Wolkenmeer.
Ich träumte von Pearl. Wir lagen zusammen auf einem aus Baumstämmen gefertigten Floß. Das Meer unter uns war ruhig und blau, doch in der Ferne braute sich ein Unwetter zusammen.
Ich trug eine Rettungsweste, Pearl nichts. Ich zog meine Rettungsweste aus und legte sie Pearl an, weil ich mich erinnerte, daß sie immer noch nicht schwimmen konnte. Ich schloß sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. Ich wußte, daß mein ganzes Leben nur die Vorbereitung für diesen Augenblick gewesen war, in dem ich unser Floß sicher durch das Unwetter steuern würde. Danach würde sich Pearl neben mir niederlassen, meine Lippen mit ihren weichen Fingern berühren und sagen: »Schon gut, Martin. Jetzt ist alles vorbei.«
Ich wachte auf und blickte auf die Kornblumen. Ich schien weder meinen Kopf noch meine Augen bewegen zu können, um festzustellen, was sonst noch da war. Ich fragte: »Pearl, bist du da?«
Keine Antwort.
Ich hatte starke Schmerzen in der Brust. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir haben, dachte ich. Vielleicht war es der Tag, an dem Walter Loomis nach Nashville flog, so daß ich ihn nie wiedersehen würde. Um die Schmerzen auf einem erträglichen, gleichmäßigen Niveau zu
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