Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
neue Neugier auf alles, was es zu begreifen gab. Durch Miss McRaes Begeisterung für Geographie lernte sie Wörter kennen, die von weit her zu kommen schienen: Isthmus, Gletscher, Fjord, Delta, Atoll. Sie fertigte Zeichnungen von Wolkenformationen an und kannte deren Namen: cumulus bedeutete Haufen oder Ansammlung, stratus bedeutete etwas Flaches, cirrhus bedeutete Federwolke, was so etwas wie eine Haarlocke war. Sie lernte, daß ein Stalaktit ein mineralhaltiger Eiszapfen war, der in einer Höhle von der Decke hing, und daß sich durch sein Tropfen darunter ein kleiner Eishügel bildete, der immer größer wurde, bis er schließlich zu einer Säule angewachsen war, die man Stalagmit nannte.
Manchmal trafen Stalaktiten und Stalagmiten auch zusammen. Wenn dann jemand in die Höhle kam, hatte er den Eindruck, daß es sich um Säulen handelte, die das Dach abstützten. »Und das«, sagte Miss McRae feierlich, »ist etwas ganz Außergewöhnliches. Ein wunderbares Spiel der Natur, Kinder.«
Marys Zeichnungen von Atollen und Wolken wurden im Klassenzimmer mit kleinen Klebesternchen an der Wand befestigt. Es waren Bleistiftzeichnungen. Angesichts der kräftigen Linien fragte sich Miss McRae, ob Mary vielleicht eine künstlerische Begabung hatte, die sie pflegen sollte. Doch dann merkte sie, daß Mary ihre ganzen Schulaufgaben mit viel Begeisterung ausführte und eifersüchtig war, wenn jemand etwas besser konnte als sie. Das galt sogar fürs Rechnen. Beim Abfragen schoß ihre Hand jedesmal in die Höhe. Sie beherrschte die Trockenmaßtabelle vor allen anderen und widmete sich ihren Additionen mit übertriebener Sorgfalt, das Gesicht dicht am Papier.
Einmal brachte sie ein Buch mit zur Schule, das ihrer Großmutter gehört hatte. Sie zeigte es Miss McRae draußen auf dem kalten Schulhof. Es war ein Lexikon der Erfindungen , und Mary meinte: »Ich dachte immer, die Welt sei fertig. Sie nicht auch, Miss McRae?«
»Fertig, meine Liebe?«
»Ja. Schon lange. Sie nicht auch?«
»Nun...«
»Sehen Sie nur! Nähmaschine: Thomas Saint, England, 1792. Ja? Revolver: Samuel Colt, Amerika, 1835. Thermometer: Galilei, Italien, 1597. Das heißt doch, daß es diese Dinge vorher nicht gegeben hat.«
»Ja, das ist ganz richtig, Mary. Und es bedeutet natürlich auch, daß noch viel kommen wird, Dinge, die wir uns jetzt vielleicht gar nicht vorstellen können.«
»Ja.«
Mary, die eben noch einen aufgeregten Eindruck gemacht hatte, sah jetzt plötzlich ängstlich aus. »Ich glaube aber nicht, daß meine Mutter das alles weiß«, sagte sie.
»Das meine ich aber doch, meine Liebe.«
»Nein, bestimmt nicht. Da bin ich mir sicher. Sie kann sich vielleicht vorstellen, daß es etwas Neues geben wird, aber sie weiß nicht, daß es vor Thomas Saint, 1792, keine einzige Nähmaschine auf der Welt gegeben hat.«
Miss McRae sah Mary an. Seit jenem Morgen, an dem sie Irene Simmonds’ Baby mit zum Unterricht gebracht hatte, hielt sie das Mädchen für merkwürdig, außergewöhnlich, für eines jener Kinder, deren Zukunft man nicht voraussagen konnte. Sie legte ihr beschützend ihre in einem grauen Wollhandschuh steckende Hand auf den Kopf. »Geh jetzt spielen, Kind! Es ist zu kalt zum Herumstehen.«
So rannte Mary weg, ihr kleines Lexikon der Erfindungen fest umklammert. Miss McRae sah, wie sie an der Schaukel darauf wartete, daß sie an die Reihe kam. Sie sprach mit keinem der Kinder, und keines sprach mit ihr. Als sie dann dran war, setzte sie sich nicht auf die Schaukel wie die meisten Mädchen, sondern stellte sich darauf und schob ihren Körper dem grauen Himmel entgegen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ohne Furcht. Die Ketten der Schaukel knirschten in ihrer Verankerung. Mary schwang immer höher.
Auch zu Hause auf ihrem Hof gab es eine Schaukel. Sie war am Ast einer Kiefer befestigt. Sonny hatte sie für Tim aus einem Traktorreifen und einem Stück Seil gemacht. Zwei Extraknoten gewährleisteten die Sicherheit des Jungen. Manchmal, bei Ostwind, starrte Sonny auf den Baum wie auf einen Todfeind.
Timmy saß im Reifen wie in einem Eimer und warf seine Beine nacheinander schwach nach vorn. Er dachte, der Reifen würde schon vom bloßen Hineinsetzen schwingen. Als er das nicht tat, wollte er angeschubst werden. Und wenn ihn niemand anschubste, heulte er. Mary wünschte, er wäre tot. Mit seinen doofen Augen, seinem Schlucken, wenn er weinte, und seinen dann von den Tränen schleimigen Wangen sah er wie ein Frosch aus. Jeden Tag betete Mary,
Weitere Kostenlose Bücher