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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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unbeschreiblich hübsches, mit der erstaunlichen Anmut der Kinder auf Gainsborough-Gemälden.
    Er probierte den Battenbergkuchen. Er sah, wie Irene ihren dicken Arm vorstreckte und Pearl einen Krümel von der Wange wischte. Er schaute weg. Er versuchte sich auf den Kuchen zu konzentrieren, doch schien dieser, den er jetzt als Brei im Mund hatte, so süß und parfümiert zu schmecken, wie Irene roch und – er wagte es kaum zu denken – wie ihr Körper schmecken würde, den sich sein ungehorsamer Geist immer wieder vorstellte. Er schluckte den letzten Kuchenbissen hinunter und spülte dessen Süße mit Tee weg. Entschieden wischte er sich den Mund ab. Sein Entschluß stand fest. Harker, sagte er sich, sieh zu, daß du diese Frau loswirst!
    Er blickte sie nun an, blickte in ihr großflächiges Gesicht mit der zarten Haut und auf ihre riesigen Brüste in der adretten Bluse hinter dem Schürzenlatz. Er legte seine Hand schützend auf den Schoß.
    »Irene, könnte Pearl wohl mal für einen Moment hinausgehen und in einem anderen Zimmer spielen?«
    »Mr. Harker...«, setzte Irene an.
    »Nur für ein oder zwei Minuten, während wir hier alles regeln.« Irene nahm Pearl das Lätzchen ab und sagte zu ihr, sie solle sich ein Weilchen draußen auf die Treppe setzen.
    Als sie weg war, meinte Harker: »Ich hatte schon die ganze Zeit vor, mit Ihnen zu sprechen, Irene.«
    Er sagte das so ernst, daß Irene ein glitschiges Gefühl in der Herzgegend bekam, als befände sich dort eine Made. »Wenn es wegen Pearl ist...«
    »Pearl?«
    »Ja. Wenn es darum geht, daß ich sie zur Arbeit mitbringen muß – ich weiß, wie lästig das für Sie ist, aber ich kann es wirklich nicht ändern. Ich habe niemanden, dem ich sie anvertrauen kann. Absolut niemanden. Deshalb habe ich den Zettel geschrieben. Ich weiß, es gefällt Ihnen nicht, daß sie hier ist, Sie fühlen sich von ihr gestört...«
    »Nun, ganz so ist es eigentlich nicht...«
    »Im Frühjahr kommt sie in die Schule, dann ist sie vier. Bis dahin ist es nicht mehr lange. Und sie ist ein liebes Mädchen. Sie tut, was ich ihr sage. Sie spielt mit ihren Puppen, aber leise. Sie singt nicht...«
    »Ja, gewiß.«
    »Und wenn ich gehen müßte... Sie kennen meine Lage, Sir. Sie wissen, wie schwer es für mich wäre...«
    »Es tut mir leid«, sagte Harker fest.
    »Niemand sonst in Swaithey würde mir Arbeit geben.«
    Harker hatte den Eindruck, daß sich Irene durch ihre flehende Stimme und ihr erhitztes, aufgeregtes Aussehen im Raum noch mehr auszudehnen schien und ihn zu ersticken drohte. Sag ihr, daß sie gehen soll und so weiter, sag es ihr jetzt, Harker, redete er sich zu. Der Zustand seines Schoßes war entsetzlich, ja geradezu bedrohlich. Er trieb ihm die Schamröte ins Gesicht, und als er sprechen wollte, merkte er, daß sein Mund ganz trocken war.
    »Ich kann darüber nicht verhandeln«, sagte er. »Es tut mir leid. Wie Sie wissen, reise ich in zwei Wochen nach Frankreich. Ich werde Sie noch für die vier Wochen, die ich weg bin, bezahlen, und damit muß es dann gut sein.«
    Irene hatte nicht weinen wollen. Sie entschuldigte sich, stand auf und begann das Teegeschirr aufzuräumen. Ihre Tränen tropften auf das Deckchen. Sie drehte sich um und sah Mr. Harker an. Zu ihrer Überraschung saß er noch immer am Tisch. Sie hatte gedacht, er wäre inzwischen schon wieder in seinen heißgeliebten Keller entflohen.
    »Darf ich fragen«, sagte sie in ihrem tiefen Elend, »ob Pearl der Grund ist?«
    Harker blinzelte. Er machte einen zerstreuten Eindruck, als wäre er mit seinen Gedanken schon wieder woanders. »Ob Pearl der Grund ist?«
    »Ja.«
    »Nun, ich fürchte, ja«, sagte Harker und versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Sehen Sie, meine Arbeit erfordert Ruhe und starke Konzentration. Jede Änderung der Atmosphäre im Haus ist von Nachteil. Das ist nicht Ihr Fehler, Irene. Es ist nicht Ihr Fehler, und es tut mir leid. Aber so ist es nun mal.«
    Er blieb noch immer am Tisch sitzen.
    Irene dachte, daß dies schon sehr merkwürdig war. Er saß steif da, als ob er sich nicht vom Fleck getrauen würde.
    Irene wrang den Spüllappen aus und wischte sich gedankenverloren damit übers Gesicht. Er roch nach Kohl und Karbolseife, nach dem Elend, das vor ihr lag.
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