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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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keins und begehre auch nichts mehr. Und an glitzernden Tagen denke ich: Wie traurig für dieses Mädchen im Hamlet , daß sie nicht wie ich vom Fluß nach Hause zurückgekehrt ist, um dort ihr Haar zu waschen.
»Leicht, leicht...«
    Kurz vor Weihnachten wurde Mary für Miss Vistas Ballettstunde am Samstagmorgen angemeldet. Der Unterricht fand in Swaithey in der Hütte der Pfadfinderinnen statt, die mit ihren mit Kreosot bestrichenen Holzlatten und ihrem Blechdach wie eine Siedlerhütte aussah. Der Linoleumboden wurde einmal in der Woche gewachst. Miss Vistas Tänzerinnen quietschten darauf herum, eifrig, aber beschämt. Das Quietschen klang wie Furzen, komisch und auch wiederum schrecklich.
    Es war Sonnys Idee gewesen. Er hatte zu Estelle gesagt: »Dieses Kind ist ständig in Bewegung. Sieh nur!«
    Mary hatte in einem Graben einen alten Tennisball gefunden, der von Algen leuchtend grün gefärbt war. Sie hatte ihn auf dem Ofen getrocknet, bis er wieder gut sprang, und nun war er ihr ständiger Begleiter. Sie warf ihn weit von sich und rannte hinterher, schleuderte ihn hoch in die Luft und fing ihn wieder auf, ließ ihn von Bäumen abprallen, kickte ihn, ließ ihn hüpfen und rollte ihn über den Boden – bis sie erschöpft war. Sogar im Schlaf hielt sie ihn in der Hand.
    Estelle beobachtete sie. Marys Bewegungen waren abgehackt und wild. Doch beunruhigender noch schienen ihre Ziele zu sein. Sie warf den Ball im hohen Bogen weit von sich und versuchte dann, ihn einzuholen. Sie probierte es immer wieder und immer wieder, da sie einfach nicht einsehen wollte, daß es nicht ging. Man konnte meinen, daß sie selbst der grüne Tennisball sein wollte, den sie in die Luft schleuderte und von Bäumen abprallen ließ.
    »In ihrem Alter«, sagte Sonny, »sollte sie etwas Grazie haben.«
    »Ich weiß«, erwiderte Estelle. »Aber Grazie liegt nicht einfach so in der Luft, nicht wahr? Man kann sie nicht einatmen.«
    »Man atmet sie nicht ein, man erlernt sie.«
    »Ja. Aber wie nur?«
    »Durch Nachahmung.«
    Also meldeten sie Mary bei Miss Vista an.
    Estelle dachte an ihre eigenen Ballettstunden als Kind in der Bibliothek eines Privathauses. Sie erinnerte sich an Bänder und gleißendes Sonnenlicht, an gedämpftes Klavierspiel und an Livia, die auf einem harten Stuhl saß und zuschaute. Estelle dachte, sie würde Mary etwas von Wert geben – ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit.
    Mary wollte wissen, ob im Ballett Jungen und Mädchen sein würden. Estelle sagte, sie glaube schon, vielleicht würden sie auch einen Seemannstanz einstudieren.
    Es waren aber keine Jungen da. Und die Mädchen probten für eine Weihnachtsaufführung, die Miss Vista unter den Titel Mädesüß gestellt hatte. Die Tänzerinnen waren in drei Gruppen eingeteilt; die erste waren Butterblumen, die zweite rote Pimpinellen und die dritte Distelwolle. »Willkommen bei uns, Mary«, sagte Miss Vista. »Du kannst bei der Distelwolle mittanzen. Mach ihnen einfach alles nach.«
    Es war kalt in der Pfadfinderinnenhütte. Miss Vista tanzte im Mantel und mit Strickstulpen über den Waden. Die Kinder trugen nur ihre warmen Unterhemden und -hosen und darüber die leichten Wiesenkostüme – die Pimpinellen und Butterblumen rote und gelbe Hänger und die Distelwolle weiße Tüllröcke, die wie Fächer steif abstanden. Miss Vista hatte einen leidenschaftlichen Mund mit orangefarbenem Lippenstift. Daraus ergossen sich ihre enthusiastischen Anweisungen, während sie sich quietschend auf den Ballettschuhen durch den Raum bewegte, die Arme unter dem Gewicht des Mantels hebend und wiegend. » Beugt euch , Butterblumen! Wind kommt auf. Gebt nach! Gebt dem Wind nach! Ihr könnt nicht anders. Wohl aber ihr, Distelwolle. Ihr steigt auf! Ihr schwebt. Der Wind trägt euch. Ihr seid leicht, leicht! Am Anfang ein Knäuel, alle zusammen. Puffpuff! Dann schwebt ihr einzeln davon. So ist es richtig, Mary, einzeln davon! Vom Wind getragen. Leicht, leicht, leicht!«
    Mary hatte gedacht, es gäbe Vorschriften fürs Tanzen. MissMcRae sagte oft, daß alles im Leben Regeln unterliegt, selbst wenn man sie manchmal nicht auf den ersten Blick sieht. »Dann sind es innere Regeln, Mary, völlig verborgen, aber dennoch vorhanden, meine Liebe.« In Miss Vistas Unterricht hüpfte man aber nur herum und tat so, als wäre man Unkraut.
    Es wurde einem nicht gesagt, was man mit den Füßen machen sollte oder wie man mit den Armen einen Kreis vollführte. Man sah an Miss Vistas Beinbewegungen, daß sie

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