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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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selbst einmal ein paar Regeln gelernt haben mußte. Sie hatte lediglich beschlossen, sie nicht weiterzugeben. Auch wenn Jungen zum Unterricht gekommen wären, hätte sie ihnen keinen Seemannstanz beigebracht.
    Mary fühlte sich angewidert. Sie verachtete Miss Vista und hätte ihr am liebsten ihren grünen Tennisball ins Gesicht geschleudert. Sie wünschte, ein richtiger Wind würde aufkommen und sie ins schwarze Universum davontragen.
    Als sie ihren Eltern erzählte, daß Miss Vista ihr nicht das Tanzen beibrachte, sagten diese, sie könne aber lernen, sich »besser zu bewegen«. Estelle meinte: »Als ich so alt war wie du, haben wir mit Bändern hübsche Figuren getanzt.«
    Sie hatten Geld für Ballettschuhe ausgegeben. Wenn man sie trug, hatte man das Gefühl, Handschuhe an den Füßen zu haben. Man konnte jede Bodenunebenheit, jedes Steinchen spüren. Mary blickte auf ihre rosafarbenen Beine mit den rosafarbenen Schuhen am Ende und bemitleidete sie, als gehörten sie zu einem anderen Mädchen, dem man eingeredet hat, tanzen zu können. In ihrem Distelwollerock kam sie sich wie die Toilettenpapierverbrämungspuppe vor, die Judy Weaver als ihr »kostbares Ding« mit zum Unterricht gebracht hatte. Sie riß sich die Schuhe von den Füßen und den Tüllfächer vom Leib und steckte alles weg, um es nicht mehr sehen zu müssen. Dann legte sie sich aufs Bett und balancierte ihren Tennisball auf der Brust. Sie schmiedete einen Plan.
    Je näher der Tag der Weihnachtsaufführung kam, desto mehr achtete Miss Vista auf Einheitlichkeit. Sie hielt die Butterblumen an, sich gleichzeitig zu beugen, die Pimpinellen,sich gemeinsam zu ducken. Nur die Distelwolle durfte sich verstreuen und herumfliegen, denn das entsprach ihrer Natur, so machte sie es. Dafür wurde diese von ihr gedrängt, wesenlos zu werden, so zu tun, als hätte sie keinen Körper, als berührten ihre Füße nicht den Boden. »Leicht, leicht, Mädchen!« flehte Miss Vista. »Federn! Träume! Staubteilchen!« So quietschten und sprangen sie durch den Raum, manchmal fielen sie auch hin oder stießen aus Versehen gegen die Wand.
    Miss Vista wurde es heiß bei ihren Bemühungen, aus ihnen vom Wind verwehte Saat zu machen, so daß sie ihren Mantel auszog, unter dem sie eine orangefarbene Tunika und eine buntgemusterte Strickjacke trug. Mary bewegte sich mit großen, schnellen Schritten. Sie verwandelte das Beinahe-Chaos in der Hütte in ein vollkommenes, traumhaftes, indem sie ihre Brille absetzte. Jetzt hatte sich Miss Vista nicht nur von ihrem Mantel getrennt, sondern von sich selbst. Mary fühlte Lachen in sich aufsteigen, Lachen, das einem Schrei sehr ähnlich war.
    Die Eltern kamen zur Aufführung und nahmen auf den harten Stühlen in zwei Reihen Platz. Estelles Haar war fettig von den Ölbädern, mit denen sie seinen Glanz wiederherstellen wollte. Sonny saß wie ein Büßer mit gebeugtem Kopf da. Estelle blickte aufs Linoleum und dachte an das gelbliche Parkett in der Bibliothek.
    Während die Distelwolle dicht gedrängt hinter einem dünnen Vorhang auf ihren Auftritt wartete, verließ Mary diese und ging zum Umkleideraum zurück, wo ihr Mantel an einem Haken hing. Sie zog die rosafarbenen Ballettschuhe aus und statt dessen die Gummistiefel an. Diese sollten Pappzylinder und ihre Beine die lachsfarbenen Plastikbeine von Judy Weavers Puppe sein. Sie plusterte ihren Tüllrock um die Stiefel herum auf. Jetzt bin ich, dachte sie, eine lebende Toilettenpapierverbrämung.
    Sie ging zu ihrer Gruppe zurück, die zitternd am Vorhang stand. Es ist nicht möglich, in Gummistiefeln leicht zu gehen.Die Distelwollemädchen drehten sich – fast in völliger Übereinstimmung – nach Mary um und starrten sie an. Angstvoll schnappten sie nach Luft und hielten sich aneinander fest. Ihr Zittern verstärkte sich. Die Mutigsten unter ihnen legten die Hände vor den Mund und unterdrückten ein Lachen.
    Die Distelwollemusik setzte ein. Sie strömten hinaus, puffpuff, auf und davon, schwerelose Dinge, Spreu und Gebete. Mary folgte, weit ausschreitend und springend. Das Quietschen ihrer Gummistiefel war lauter als alles, was die Ballettgruppe je gehört hatte. Die Butterblumen starrten sie mit offenem Mund an. Die Pimpinellen drängten sich beschämt aneinander. Aus den beiden Elternreihen wurde Murren und Flüstern laut, wie Stimmen in einem Traum. Dann spürte Mary Miss Vistas Hand auf ihrem Arm. Mary hörte zu tanzen auf. Sie lächelte, als sie weggeführt wurde. Sie konnte ihre Eltern

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