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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht sehen. Diese waren ganz verschwommen. Aber sie sah zwei Miss Vistas, beide zart, doch keine von beiden eine Tänzerin.
    Sonny sagte nach diesem Zwischenfall: »Wir müssen sie die ganze Zeit im Auge behalten, Estelle. Tag und Nacht. Wer weiß, wozu sie noch fähig ist.«
    Man konnte es wirklich nicht wissen. Mary wußte es selbst nicht.
    Als sie nach der Distelwolleaufführung nach Hause kamen, gab Sonny ihr acht Ohrfeigen.
    Sie bedeckte ihr Ohr mit einem grauen Fäustling. Sie dachte, es würde nun eine Koralle daraus werden. Lautlos sagte sie zu ihrem Vater: Wenn ich ein Mann bin, bringe ich dich um.
    Bei Estelle fand sie keinen Schutz und Trost. Diese ging hinaus und starrte auf ihre Bantamhühner im Gehege. Irgendwo mußte es doch Zufriedenheit geben! Timmy folgte ihr und legte seine Hand in ihre.
    Am Weihnachtsnachmittag begaben sich Sonny und Estelle zu ihrem Bett mit der Kuhle. Sie rochen nach dem billigenPortwein, den sie zum Pudding getrunken hatten. Sonny hatte seiner Frau den Arm um den Hals gelegt, und seine Hand widmete sich ihrer Brust ähnlich liebevoll wie sonst seinem Geld. Er sagte zu Mary und Timmy, sie sollten nach draußen gehen und spielen und erst wieder hereinkommen, wenn es dunkel wurde.
    Mary warf Timmy den grünen Ball zu. Sie warf ihn mehrmals, doch nicht ein einziges Mal fing er ihn auf. Sie dachte: Estelle ist so verzweifelt, weil Timmy den Ball nicht fangen kann, weil er mit den Händen vor den Augen herumläuft und weil er keine Sternchen auf der Bestenliste in der Schule hat. »Du hast kaum etwas Menschliches!« sagte sie, als er den Ball wieder einmal fallen ließ. »Du bringst unsere Mutter noch um.«
    Er begann zu weinen und lief aufs Haus zu, doch Mary dachte an den Portweinatem ihrer Eltern und den merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen und rannte hinterher und fing ihn ein. Er strampelte und schlug um sich, und ihr war die Berührung seiner Arme und Beine sehr unangenehm. Sie lud ihn im Reifen ab und schaukelte ihn, bis die Sonne hinter der Hecke unterging und grünes Zwielicht über ihnen lag. Während sie ihn anschubste, zählte sie in Gedanken alles auf, was Timmy nicht allein konnte und Estelle in ihre eigene, unerreichbare Welt trieb: Er konnte sich die Stiefel nicht selbst zubinden; er war nicht in der Lage, ein so einfaches Wort wie »Ding« zu lesen; er schaffte es nicht, drei Nächte hintereinander nicht ins Bett zu machen; er kapierte das Einmaleins nicht; er merkte sich den Text von In the Bleak Mid-Winter nicht; er konnte nicht eine Mahlzeit zu sich nehmen, ohne zu kleckern; er war unfähig, die Bantamhühner zu füttern, ohne die Körner hoch in die Luft zu werfen. Er war hoffnungslos. Das beste wäre, er würde eines Morgens in seinem durchnäßten Bett nicht mehr aufwachen. Man würde ihn beerdigen, er würde ein hübsches, ordentliches Grab bekommen, auf dem ein steinerner Engel kniete, der darauf achtete, daß er blieb, wo er war. Estelle würde trauern. Sie würde ihm Blumenbringen. Sie würde hingehen und auf den Engel starren. Doch dann würde sie sich erholen. Sie würde keine Selbstgespräche mehr führen und nicht mehr in Trance dasitzen und ihre Nähmaschine streicheln. Sie würde aufhören, zum Fluß zu gehen. Sie würde zurückkommen, wo immer sie auch gewesen sein mochte.
    Mary beschloß, ihn noch in derselben Nacht, der Weihnachtsnacht 1955, zu töten.
    Sie hielt sich wach, indem sie sich auf das Ohr schlug, das von Sonnys Ohrfeigen noch immer blau war.
    Sie hatte Kopfschmerzen. Sie wünschte, alles wäre schon vorbei. Sie dachte: Jetzt weiß ich, warum Großmutter Livia in ihrem Segelflugzeug aufgestiegen ist. Sie hatte einfach alles satt, nur den Himmel nicht.
    Als sie hörte, daß Sonny zu schnarchen anfing, ging sie barfuß die Treppe hinunter in die kalte Küche. Sie öffnete die Speisekammertür und holte vom Regal das Insektenspray, das dort für die Sommerfliegen stand. Es hieß Flit. Ihr gefiel das Wort. Sie dachte: So tötet man. Man hat eine Waffe und ein Wort. Man verwendet beides. Flit. »Flit«.
    Mary ging die Treppe wieder hinauf. Sie hatte keine Angst, nur vor Müdigkeit schwere Beine.
    Sie kniete sich vor der Tür von Timmys kleinem Zimmer hin und öffnete diese gerade so weit, daß sie ihren Arm hineinstecken und mit der Flitwaffe auf das Bett zielen konnte. Um nicht auch selbst zu sterben, hatte sie ein Taschentuch mitgebracht, das sie sich vor Mund und Nase hielt.
    Sie begann zu pumpen. Die Düse ihrer Waffe blubberte und

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