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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zischte. Aus dem Zimmer kam kein Laut. Ein Flittod war ein friedlicher Tod. Man atmete das süßlich riechende Gift ein und entschlummerte. Und am Morgen wachte man dann nicht mehr auf.
    Sonny war um Mitternacht mit Kopfschmerzen vom Trinken und durstig wach geworden. Auf dem Weg ins Bad fand er Mary, die vor Timmys Tür kniete.
    »Was machst du da?« fragte er.
    »Nichts«, sagte Mary.
    Doch Sonny roch das Flit. Er stieß Mary beiseite und ging in Timmys Zimmer, wo sein Sohn friedlich unter einer Giftwolke schlief.
    Er schrie nach Estelle, und sie kam in ihrem fleckigen Nachthemd angerannt, holte Timmy aus dem Bett und brachte ihn in ihr Zimmer ans Fenster, um ihn die kalte Luft der Weihnachtsnacht einatmen zu lassen. Sie sah Mary nicht an, auch nicht Sonny. Sie schloß die Tür.
    Sonny ging mit seinen Händen ans Werk. Er zog Mary die Schlafanzughose runter und prügelte auf ihren Hintern und ihre Oberschenkel ein.
    Als sie nicht weinte und auch sonst keinen Laut von sich gab, schlug er sie aufs Ohr, dasselbe Ohr, auf das er sie nach Miss Vistas Aufführung geschlagen hatte. Sonny ging so heftig auf sie los, daß sie zu Boden fiel. Er riß sie an den Armen wieder hoch und schlug sie erneut auf den Kopf. Er hörte erst auf, als er keine Kraft mehr hatte, sie wieder auf die Beine zu stellen.
    Sonny ließ sie am Boden liegen. Im kalten Bad trank er dann ein Glas Wasser.
    Mary konnte sich später nicht an den darauffolgenden Morgen erinnern. Sie lag in einer Grube. Sie wußte, daß sie tief unter der Erde war, wo niemand sie finden konnte.
    Sie hörte Geräusche, die wieder verebbten, kamen und gingen. Darunter Miss Vistas Stimme. »Leicht, Kinder!« flüsterte sie. »Leicht, leicht!«

4. Kapitel
    1957
Mary:
    Mein Großvater – Livias Mann – hieß Thomas Cord. Für uns war er Grandpa Cord. Er war blaß und klein und ein Geschichtsnarr. Und dem Wincarnis verfallen. Wenn er sprach, schloß er die Augen, als könnte er nicht gleichzeitig sehen und sprechen. Er liebte vier Dinge auf dieser Welt. Eins davon war die Livia seiner Erinnerung. Dann das Gesicht und die Stimme einer Schauspielerin namens Mary Martin.
    Er schrieb mit grüner Tinte Sprichwörter auf kleine Karten und hängte sie über den Türstürzen auf. Einige davon waren in Latein. Sein Lieblingsspruch lautete: Ama et fac quod vis. Manchmal blieb er davor stehen und sagte: »Wie wahr. Nur allzu wahr.« Einige der Sprichwörter waren bereits verblichen. Grandpa Cord meinte dazu: »Grüne Tinte vergeht, Mary. Wie auch die Weisheit manchmal. Wenn ein Spruch verblaßt ist, so ist es vielleicht an der Zeit, ihn abzunehmen. Vielleicht aber auch nicht.«
    Er wohnte achtzehn Kilometer von unserem Hof entfernt in einem Dorf namens Gresham Tears. Sein Haus bestand aus Feuer- und Ziegelsteinen und war ein dunkler Kasten. Dort hatte meine Mutter ihre Kindheit verbracht. Am Gartentor standen zwei Stechpalmen, die Grandpa Cord mit der Hekkenschere kegelförmig gestutzt hatte und die seinem Haus den Namen gegeben hatten. Seine Adresse war nämlich Holly House, Gresham Tears, Suffolk, und er fand diese Adresseganz wunderbar und beglückend. Sie war die dritte Liebe seines Lebens.
    Ich hatte geglaubt, ich würde Grandpa Cord niemals richtig kennenlernen. Ich hatte geglaubt, ich würde ihn immer nur bei kurzen Besuchen sehen, bei denen er mir Ingwerlimonade einschenkte und von Ethelred II. erzählte, und daß er dann sterben würde. Doch das erwies sich als Irrtum. Im Sommer des Jahres 1957 wurde ich für längere Zeit zu ihm geschickt. Ich verließ unseren Hof, und meine Adresse lautete nun: Holly House, Gresham Tears, Suffolk. Ich nahm meine ganze Kleidung, meine Schulbücher, mein Lexikon der Erfindungen und meinen grünen Tennisball mit. Mein Vater erklärte: »Wir schicken dich zum Lernen zu ihm. Grandpa Cord wird dafür sorgen, daß du die Aufnahmeprüfung für die Grammar School bestehst.«
    Am ersten Abend zeigte mir Grandpa Cord das Theaterprogramm einer Show, die South Pacific hieß. Es enthielt ein Bild von Mary Martin, und er fragte: »Was hältst du davon?« Meiner Meinung nach sahen auf Fotografien immer alle tot aus, als wären sie ihre eigenen, längst dahingegangenen Vorfahren, doch ich sagte, daß mir der Name Mary Martin gefalle und ich mich künftig so nennen würde. Das amüsierte Grandpa Cord. Er schlug sich auf sein altes Cordsamtknie und meinte: »Niemand hat mir gesagt, daß man mit dir Pferde stehlen kann, doch das sehe ich ja nun selbst!«
    So

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