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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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begann also mein Leben bei ihm als Mary Martin. Nach einer Woche sagte ich: »Mir gefällt der Name Mary Martin zwar sehr gut, aber er ist doch recht lang, Grandpa Cord. Ich denke, du solltest mich einfach Martin nennen.«
    »Einfach nur Martin?« fragte er.
    »Ja.«
    »Nun gut. Ein bißchen merkwürdig, doch wen kümmert’s? Und nenn du mich Cord, Martin. Bei Grandpa fühle ich mich immer, als sollte ich einen Hexenschuß haben. Abgemacht?« Ich sagte, es sei abgemacht. Wir reichten uns die Hände. Die Haut von Cords Hand fühlte sich wie Ordensband an, gerippt und seidig. Er schloß die Augen und erklärte: »Pfadfinderehrenwort, wie man so sagt.«
    Von da an sah ich in uns eine Firma, Martin und Cord GmbH. Wir waren eine Firma von Träumern. Cord war auf die Vergangenheit spezialisiert, die weit zurückliegende mit Ethelred II., die mittelweit zurückliegende mit der Schlacht von Marston Moor im Bürgerkrieg und die nahe mit Livia, die einen Schal aus Madagaskar trug und Liszt spielte. Mein Bereich war die Zukunft, und zwar die Zukunft, die auf mich zuraste: die Weston Grammar School und der Verlust von Miss McRae, und die Zukunft, die sich noch still verhielt, auf den richtigen Zeitpunkt wartete – meine Zukunft als Martin Ward. Cord versorgte mich mit grüner Tinte – er kaufte nur solche –, und damit schrieb ich meinen neuen Namen ein paar hundertmal in immer anderer Schrift.
    Niemand nannte mir den wirklichen Grund, warum ich den Hof verlassen mußte, doch ich kannte ihn.
    Irene, die jetzt mit Pearl in Mr. Harkers Haus wohnte, hatte zweimal zu mir gesagt: »Es kann sein, Mary, daß deine Mutter eines Tages für eine Weile weggehen muß. Nur bis auf weiteres.« Ich verstand es also. Ich war zu Cord geschickt worden, weil das »nur bis auf weiteres« herangerückt war und ich nicht allein mit meinem Vater und Timmy auf dem Hof bleiben konnte.
    Ich wollte nicht daran denken, wohin Estelle ging. Auf der anderen Seite von Leiston gab es ein Anwesen, das Sanatorium Mountview hieß. Wir waren manchmal daran vorbeigekommen, wenn wir mit Sonnys Lieferwagen ans Meer fuhren. Ich hatte Timmy einmal zugeflüstert, daß dies eine Klapsmühle sei, wo Jungen hingeschickt würden, die das Multiplizieren nicht kapierten. Anstatt, wie erhofft, angstvoll zurückzuschrecken, blickte er auf das Gebäude, das ein umgewandeltes Herrschaftshaus mit roten Mauern, Streben und Türmchen war, und sagte: »Welcher Teil davon ist denn nundie eigentliche Mühle?« Wir mußten alle lachen. Sogar Estelle. Soweit ich mich erinnern kann, war es das einzige Mal, daß wir wie eine richtige Familie – in einem Austin und mit einem Picknickkorb – miteinander gelacht haben, damals, als Timmy nach der eigentlichen Mühle fragte.
    Doch jetzt träumte ich, daß Estelle in einer Mühle war, herumgeschleudert und verletzt wurde. Ich war in diesen Träumen ein Ritter. Mit Rüstung. Ich kämpfte mit den Mühlenflügeln und hielt sie an. Ich setzte meine Mutter auf meinen Grauschimmel und ritt davon. In meinen Träumen erfuhr ich nie, wohin ich ritt und ob – und wenn, wo – ich meine Mutter wieder absetzte. Ich ritt einfach hinaus aus meinem Traum und wachte in meinem Zimmer in Cords Haus auf, dessen Tapeten Bootsszenen zeigten. Ich sagte zu den Bootsleuten: »Ich will einfach nicht daran denken, was mit ihr geschieht.« Und dann setzte ich die Brille auf und blätterte in einem der Geschichtsbücher, die Cord mir gegeben hatte, und las so etwas wie »Thomas Wolsey war der Sohn eines Fleischers und Rinderhändlers in Ipswich« oder »Im Mittelalter starben die Menschen jung an Jahren« und wartete darauf, daß ich meinen Tag beginnen konnte.
    Cord begann den Tag mit Yoga. Er benutzte dazu eine Badematte, die durch die Zeit, die Wäschemangel und früher durch Livias nasse Füße ganz fadenscheinig geworden war. Yoga war die vierte Liebe seines Lebens. Er hatte es in Ceylon erlernt, im Haus eines Mannes namens Varindra. Er sagte, Varindra habe ihn gelehrt, die Welt auszuschließen und sich nach innen zu wenden, anstatt immer nur nach außen, und diese »Versenkung« habe ihn am Atmen und Leben gehalten, als er die Nachricht von Livias Absturz mit dem Segelflugzeug bekam. Ich verstand nicht, was er mit »Versenkung« meinte, und Cord sagte: »Nun ja, das kannst du auch nicht verstehen, Martin, nicht in deinem Alter, aber später, in deinem eigentlichen Leben, da wirst du es verstehen.«
    Ich fragte: »Du meinst, wenn ich Martin Ward bin?«
    »Du

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