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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schön!«
    »Danke«, sagte Harker.
    »Mir gefällt die Wiege am besten.«
    »Ja?«
    »Wird es ein Junge oder ein Mädchen?«
    Harker war wieder zu Atem gekommen. Er sah Mary an und lächelte heiter und gelassen wie ein Engel, der gute Nachrichten bringt.
    »Viel wichtiger ist die Frage«, sagte er, »wer das Baby gewesen ist!«
    »Wie bitte?«
    »Nun, weißt du, wir sind alle schon einmal dagewesen. Wie Voltaire sagte – du wirst Voltaire natürlich nicht kennen –, ist alles in der Natur Auferstehung.«
    »Ich bin noch nicht dagewesen.«
    »Doch, das bist du. Nicht als du, natürlich. Als jemand anders. Möglicherweise sogar als etwas anderes.«
    »Wirklich? Als was?«
    »Vielleicht findest du es heraus. Vielleicht gibt dir etwas einen Hinweis. Es kann aber auch sein, daß du stirbst, ohne es erfahren zu haben.«
    »Bist du schon einmal dagewesen?«
    »O ja.«
    »Als wer?«
    Harker seufzte. »Ich habe ein paarmal versucht, es herauszufinden, bin aber immer noch nicht sicher, daß ich es weiß.Mich faszinieren verborgene, abgeschiedene Orte. Deshalb halte ich es für möglich, daß ich eine Nonne gewesen bin. Eine Nonne, die wahrscheinlich gut stricken konnte und auf gepflegtes Essen Wert legte.«
    »Nonnen sind Frauen.«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Seelen sind geschlechtslos. Du kannst ein Mann gewesen sein, Mary, du kannst aber genausogut ein Pinseläffchen gewesen sein.«
    Mary sah Harker durch ihre Brillengläser todernst an.
    Was sie Kindern doch immer alles erzählen, dachte sie. Sie denken, daß diese nichts von der Welt wissen und noch nie etwas von Hakluyt gehört haben.
    »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« fragte Harker.
    »Nein«, sagte Mary.
    »Nun, es gibt keinen sicheren, unwiderlegbaren Beweis, nur Hinweise, Dinge, die entweder zu gut oder überhaupt nicht passen. Viele, ganz unterschiedliche Leute überall auf der Welt glauben an die Wiedergeburt. Die Tschang-Nagas in Assam glaubten, daß Menschen mit guten Stimmen als Zikaden wiedergeboren würden, und jene, die nicht singen konnten, als Mistkäfer.« Harker hatte gedacht, daß Mary bei der Erwähnung der Mistkäfer lächeln würde, doch das tat sie nicht. Er fuhr fort: »Weißt du, Mary, was sie in einigen Teilen der Bretagne glauben?«
    »Nein.«
    »Daß ein Kind, das ungetauft stirbt, immer wieder als Sperling zurückkehrt, immer wieder, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.«
    Mary schwieg, ließ aber Harker nicht aus den Augen. »Wer glaubt das noch?« fragte sie.
    »Nun, sogar in der Bibel, im Prediger Salomo, heißt es: ›... und geschieht nichts Neues unter der Sonne‹.«
    »Glaubt Irene, daß ihr Baby jemand anders gewesen ist?«
    »Sie sieht ein, daß es sehr wahrscheinlich ist.«
    »Wenn man stirbt, wird man dann sofort die nächste Person oder Sache, oder ist da eine Lücke?«
    Harker lächelte. Es klang so, als freute er sich über diese Frage, als er sagte: »In Cornwall gibt es eine faszinierende Geschichte zum Thema ›Lücke‹. In der Pfarrei St. Cleer starb ein Priester, ein gewisser Jupp. Er war ein sehr guter Mann gewesen, von allen geliebt, besonders von seinem Personal, das lange Zeit um ihn trauerte. Etwa ein Jahr verstrich. Eines Morgens fand eines der Dienstmädchen, das Pfarrer Jupp besonders gern gehabt hatte, im Besenschrank eine Spinne. Sie hatte Angst vor Spinnen und wollte sie gerade mit dem Besen töten, als sie innehielt. Sie war plötzlich von einem Gefühl des Friedens und der Freude erfüllt – dem Gefühl, das sie immer gehabt hatte, wenn sie zum Abendgebet in Pfarrer Jupps Salon niederkniete –, und sie war sich sicher, daß dies ihr früherer Herr im Körper einer Spinne war. Danach konnte in diesem Haushalt keiner mehr eine Spinne töten, weil sie befürchteten, Jupp zu töten. Doch das Merkwürdige war, daß sie ein Jahr lang nichts vom Pfarrer gemerkt hatten. Hier scheint also eine Lücke gewesen zu sein, und natürlich gibt es Hunderte anderer Geschichten, wo dies offenbar auch der Fall gewesen ist.«
    Mary blickte auf ihre Füße. Sie trug weiße Söckchen und braune Sandalen. Das dumme Aussehen ihrer Füße gehörte zu den Dingen, die sie an diesem Tag haßte.
    Sie wollte gerade sagen: Wenn ich schon einmal dagewesen bin, dann sicher nicht als Mädchen, als sie Irene die Treppe herunterrufen hörte: »Edward, bist du da unten?«
    Harker stand auf und strich sich über sein weißes Haar. Er sagte zu Mary, daß sie bleiben und im Keller herumstöbern könne, er jedoch wieder zum Fest zurückmüsse. »Es

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