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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nahe war, roch nach Eau de Cologne und sein Atem nach Popcorn. Hinter ihm, weit entfernt von ihm und dem Zentrum ihres Schmerzes, hörte sie, wie die Helferin in einem Mörser irgendeine Substanz zerstieß, und sie dachte: Diese Substanz ist neu an mir und gehört zu Martin Ward.
    Als Walter dann schließlich ins Behandlungszimmer gerufen wurde, war er vor Entsetzen ganz benommen. Er ließ sich auf den Stuhl aus Stahl und Leder nieder und hielt sich daran fest. Seine großen Hände waren feucht und schlaff.
    Als sich Gilbert nach dem Waschen seiner weißen Hände – zum achtenmal an diesem Tag – umwandte, sah er Dampf vom Kopf seines Patienten aufsteigen. Unter diesem Dampf waren borstige schwarze Locken, die sanften Augen eines Tieres und ein voller, feuchter Mund von kräftigem Rosa. Das nur ganz geringfügige, aber verräterische Spannungsgefühl an der Innenseite seiner Schenkel, das immer mit Begehren einherging, ließ Gilbert sich schnell wieder zum kleinen Waschbecken umdrehen.
    Gilbert Blakeys Träume von jungen Männern blieben Träume. Er berührte sie nie, außer in seiner Phantasie. Er glaubte, daß sein Leben, wenn er diese Männer anfaßte, nach und nach in die Brüche gehen würde, wie die Klippen von Minsmere.
    Als Gilbert schließlich nach dem Abtrocknen seiner Hände zu Walter hinüberging, fing das Telefon in seinem kleinen Büro zu läuten an, und die Zahnarzthelferin eilte fort, um abzunehmen, und ließ Gilbert und Walter, einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber, allein zurück.
    Gilbert lächelte. Er bat Walter, seinen Schmerz zu beschreiben und ihm zu zeigen, wo er genau war. Er wählte vom Tablett eine Sonde und einen Zahnspiegel. Er hörte Walter sagen, er habe überall Schmerzen, im ganzen Gesicht. Er stellte die Kopfstütze ein, so daß Walters Kopf bequem darauf zu liegen schien. Dann legte er die Sonde hin und berührte Walters Lippen mit den Fingern. »Bitte aufmachen«, sagte er.
    Walter schloß die Augen. Hinter seinen Lidern wurde alles dunkel, schien nach vorn zu kommen, dort klein zu werden und sich wieder zurückzuziehen...
    Gilbert war dem Gesicht mit dem dichten Haar und den gebogenen Wimpern auf den feuchten Wangen sehr nahe. Er bemühte sich um eine ruhige Hand. Er dachte an das Haus seiner Mutter, das sicher und stabil, in noch ausreichender Entfernung vom näher rückenden Abgrund, dastand. Die Sonde beleuchtete treffsicher ein Loch im unteren rechten Backenzahn, sichtbare kariöse Läsion und umgebende Demineralisation...
    Gilbert sah Walter weiß im Gesicht werden.
    Er rief nach seiner Helferin und ließ die Instrumente fallen. Er zog Walter an sich, in seine Arme, für einen so kurzen Augenblick, daß er ihn vor sich selbst verleugnen konnte, dann senkte er den Kopf, wobei er zum erstenmal Walters schwere Schuhe bemerkte. Er beugte sich über Walter, die Hand auf seinem Hals, den Daumen unter dem durchgescheuerten Kragen seines Wollhemdes.
    Die Zahnarzthelferin kam ins Behandlungszimmer geschritten. Zum Rennen war sie zu alt. Außerdem war sie der Meinung, daß ihr dieser gemessene Schritt Autorität verlieh. Mehr noch als ihr harter Blick ließ er jedermann wissen, daß sie jemand war, auf den man sich verlassen konnte: Ich bin stets da und sehe alles, was geschieht.
Ungetaufte Kinder
    Noch nie zuvor war Edward Harkers Haus so sauber gewesen. Sogar die Blätter der Pflanzen glänzten. Jeden Morgen, wenn Harker in den Keller und Pearl in die Schule gegangen war, legte Irene ihre geblümte Schürze an, holte die Möbelpflegecreme vom Regal und ein sauberes Staubtuch aus der Schublade und machte sich an die Arbeit.
    Harker hatte im Dorf gesagt: »Ich nehme Mrs. Simmonds als Haushälterin zu mir.« Das klang so ehrbar, daß Irene ganz gerührt war. Sie war als Haushälterin aufgenommen worden. Sie führte jetzt den Haushalt. Das Haus gehörte ihr nicht und würde ihr auch niemals gehören, doch da sie darin wohnte, wurde ihr alles darin kostbar. Harker hatte Geschmack. Er wußte, wie Möbel auszusehen hatten. Er wußte, daß ein Tisch Klauenfüße haben sollte und ein hölzernes Waschgestell etwas Wertvolles sein konnte. Irene kniete neben dem Ruhebett im Wohnzimmer, das aus der Zeit Karls I. oder II. stammte. Sie polierte den Korbstuhl. Sie holte die Porzellanhunde vom Kamin und betrachtete sie aufmerksam. In dem ihr plötzlich beschiedenen Glück sah sie in fast allem etwas Schönes. An ihre Schwester in Ipswich schrieb sie: »Ich lerne, wie alles heißt und woher

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