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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ist ja mein Fest in diesem meinem neuen Leben.«
    In jener Nacht begann Mary sich ihr früheres Leben auszudenken.
    Sie war ein Zauberkünstler gewesen, der als »Der großeCamillo« bekannt war. Er hatte schwarzes, glänzendes Haar und war ein kluger und gutaussehender Mann. Seine Spezialität war das Zerteilen und Wiederzusammensetzen von Seilen. Er hatte eine brillante Zukunft vor sich, aus der aber nichts wurde. Ein eifersüchtiger Rivale namens Timothy erdrosselte ihn mit zusammengeknoteten Seidentüchern.
    Er war als Mary wiedergeboren worden. Jemand hatte entschieden, daß die Wiedergeburt als Enkelin einer Person, die in einem Segelflugzeug gestorben war, das richtige war. Sonst war nichts bedacht worden. Auch die zu geringe Körpergröße und Kurzsichtigkeit waren übersehen worden. Wie mit der Aufstellung der leichten Kavallerie im Krimkrieg war wohl ein Fehler gemacht worden.

5. Kapitel
    1958
Estelle:
    Sie sind zu mir gekommen und haben gesagt: »Es geht Ihnen ja schon viel besser, Estelle. Wir meinen, daß Sie nach Hause gehen können.«
    Ich sagte: »Auf Wiedersehen!«
    »Auf Wiedersehen! Passen Sie gut auf sich auf, meine Liebe.«
    Ich verabschiedete mich von Alice, der Hühnerfrau.
    Sie rief: »O nein, o nein...«
    Sonny holte mich mit dem schmutzigen Wagen ab, der wie immer nach Sackleinen und Saatgut roch. Als ich mich beim Wegfahren umdrehte, sah ich Alice hinterm Wagen herlaufen und mir nachrufen.
    »Das ist Alice«, erklärte ich Sonny. »Als Henne ist sie glücklich, nicht aber als Frau.«
    Er sagte: »Du solltest dich bemühen, wieder du selbst zu sein, Estelle, wenn du nicht hierher zurückwillst.«
    Sonny war hochrot im Gesicht, und sein lädiertes Ohr sah sehr dunkel und entzündet aus. Ich stellte ihn mir allein am Küchentisch vor, die Starkbierflaschen vor sich aufgereiht wie Kegel. England ist voll von einsamen Trinkern.
    Ich wollte nicht nach Hause gehen. Im Mountview war mein Zimmer hoch oben, und ich konnte auf die Welt hinunterschauen. Ich sah die Gärten und asphaltierten Wege, alles war hübsch und ordentlich. Und ich hatte schöne Träume.
    Am Abend starrten wir dort nicht auf eine Kerze oder ins Dunkel, sondern sahen fern.
    Wir saßen in zwei Reihen im Aufenthaltsraum, die Lampen waren gelöscht, und das Licht des Fernsehers flimmerte über uns wie Schnee. Unsere Lieblingssendung war Was bin ich? Leute treten auf und vollführen kleine Pantomimen des Berufs, den sie im Leben ausüben: Glasbläser, Laternenanzünder, Tierpräparator, Liegestuhlwärter, Gerichtsvollzieher und Verwalter der Finanzen der Königin. Dann stellt ein Rateteam, bestehend aus Berühmtheiten, dieser Person Fragen wie: Benötigen Sie in Ihrem Beruf Wasser? oder: Handelt es sich um eine überwiegend sitzende Tätigkeit?, bis es den Beruf erraten hat, und alle klatschen, und die Person sagt: Sie haben recht, ich bin Bürstenverkäufer.
    Wer dieses Was bin ich? wohl erfunden hat? Wie ist es ihm bloß eingefallen?
    Das Personal vom Mountview beschloß, daß wir alle zusammen unser eigenes Was bin ich? spielen sollten. Ich sagte: Wir haben kein Rateteam, hier ist niemand berühmt. Und sie erwiderten: Nein, nein, wir brauchen kein Rateteam, jeder kann Fragen stellen.
    Ein Mann namens Fred Tulley, der Jockey gewesen war, bis er in Chepstow auf den Kopf fiel, sagte: Man kann das Spiel nicht Was bin ich? nennen, weil im Mountview niemand mehr einen Beruf hat; man muß es Was war ich? nennen. Doch sie meinten: Aber nein, Fred, Mountview ist ein Zufluchtsort, eines Tages werden alle in die Welt zurückkehren und ihren Beruf wiederaufnehmen. Fred entgegnete: Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Doktor, aber das ist doch ein hirnverbrannter Unsinn, mich kriegt niemand mehr auf ein Pferd, und wenn ich neunzig werde. Alle außer Alice lachten. Alice gackerte wie ein Huhn, und Fred Tulley fing zu weinen an. In seinem Zimmer hing eine Fotografie an der Wand, die ihn als Sieger eines Rennens in Newbury zeigte. Sein Pferd hatte Sag niemals nie geheißen.
    Wir fingen mit dem Spiel an. Viele der Leute im Mountviewwußten nicht, was eine Pantomime war. Als ein Mann an die Reihe kam, der Straßenbahnschaffner gewesen war, sagte er: Festhalten, bitte festhalten. Ich dachte: Wie merkwürdig, daß ich nach meiner schönen Kindheit in Gresham Tears jetzt mit Leuten zusammen bin, die sich für Hühner halten oder nicht wissen, was eine Pantomime ist.
    Wir waren nicht gut beim Raten von Was bin ich? Wir errieten lediglich einen

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