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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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weit unter mir und ruhig und still.
    Ich hoffe, daß es Dir gutgeht und Du noch Spaß an Dixon of Dock Green hast.
    Es hat mir nicht gefallen, wie Du hinter dem Wagen hergerannt bist und Estelle gerufen hast!
    Herzliche Grüße von
    Estelle Ward
    Elm Farm
    Swaithey
    Suffolk
    England
    Die Welt
    März 1958
Mary:
    In der Weston Grammar School war ich der einzige Junge. Es gab dort siebenundneunzig Mädchen und mich.
    Am ersten Tag mußten wir der Klasse unsere Namen nennen. Die Lehrerin meinte: »Wenn jemand von euch einen Spitznamen hat, mit dem er gern angeredet werden möchte, dann soll er das bitte sagen.« Sie fuhr fort: »Mein Name ist Miss Gaul. Ich glaube aber, daß ich als Gallus bekannt bin.« Alle lachten, außer mir, denn ich konnte kein Wort Latein. Ich fühlte mich dumm und traurig. Ich sah Miss McRae vor mir, wie sie sagte: »Wenn man in einem Leuchtturm wohnt, Mary, kann es sein, daß einen gewisse Dinge nie erreichen.«
    Fast alle Mädchen hatten einen Spitznamen. Eins nach dem anderen nannte ihn errötend. Es war peinlich. Das Mädchen neben mir sagte: »Ich heiße Belinda Mulholland, aber ich werde recht oft Binky genannt.« Ich sah, wie Belinda errötete und sich die Röte bis an die Wurzeln ihres hellen Haares ausbreitete, dann über ihren Hinterkopf bis zum Nacken lief, und ich dachte: Wenn man etwas sagt, was man eigentlich gar nicht sagen will, dann ist das wie mit der Kinderlähmung – man kann für immer ein Krüppel werden.
    Als ich an die Reihe kam, errötete ich nicht. Ich erklärte: »Ich heiße Mary Ward, doch ich bin nie Mary, sondern immer schon Martin gewesen, und ich bitte daher darum, Martin genannt zu werden.«
    Miss Gaul hatte ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten, den sie wie eine Kordel um den Kopf gelegt hatte, und als ich sagte, daß ich Martin sei, löste sich die Haarnadel, und die Kordel fiel herunter und ging auf.
    Sie fragte: »Marty? Na gut, meine Liebe. Wir nennen dich Marty.«
    Und wegen des springenden Zopfes brachte ich es nicht über mich, ihr zu widersprechen.
    Die Schule war ein großes graues Gebäude aus der Zeit Königin Viktorias. Schon beim Öffnen des Pultdeckels streifteeinen ein Hauch von Geschichte. Die Tintenfässer waren aus Porzellan, und in den Gängen gab es viele Reihen von Fotografien ehemaliger Schülerinnen, die lange Röcke trugen und das süße Lächeln der Toten auf den Lippen hatten. Beim Abendessen schmeckte selbst die Soße alt, als wäre etwas umgeschlagener Wein hineingegossen worden. Die Schule hatte portugiesisches Küchenpersonal, Nachkommen Vasco da Gamas.
    Mir gefiel die Schuluniform, besonders die Krawatte, die rot-weiß und wie eine Männerkrawatte war. Die Uniform stand mir besser als alles, was ich je getragen hatte, und das einzige, was ich an mir nicht ausstehen konnte, waren meine nackten Beine zwischen dem grauen Rock und den grauen Socken. So ging ich jetzt hocherhobenen Hauptes, und meine Augen hinter den Brillengläsern hatten einen hungrigen Ausdruck. Und diese neue Art, mich zu geben (wie es Cord vielleicht ausgedrückt hätte), wurde fälschlich als Freundschaftsangebot angesehen. Am ersten Morgen kamen gleich drei Mitschülerinnen zu mir und boten mir von ihren Süßigkeiten an. Doch ich lehnte ab. Ich sagte: »Nein danke. Ich mache mir nichts aus Süßigkeiten« und ging weg. Ich wußte nicht, wie man Freundschaften schloß.
    Dann sah ich Lindsey Stevens.
    Sie war das größte Mädchen in der Klasse und hatte langes, schweres Haar, das am Hinterkopf von einem Band zusammengehalten wurde. Ihre Augen waren schläfrig und freundlich. Es war offensichtlich, daß es keinen Moment in ihrem Leben gegeben hatte, in dem sie nicht schön gewesen war. Ich starrte sie an, bis ich erschöpft war, und mir fiel ein, daß Miss McRae einmal gesagt hatte, daß Schönheit ermüdend sein könne.
    Ich schloß die Augen. Eine Lehrerin namens Miss Whyte mit »y« erteilte uns unsere allererste Physikstunde. Sie beschrieb uns das Prinzip der Thermoskanne: »Die Kontaktstellen zwischen der inneren und äußeren Wand sind auf ein Minimum reduziert, um die Wärmeübertragung einzuschränken. Innen ist die Thermoskanne versilbert...«, und ich dachte: Wenn Lindsey Stevens nicht meine Freundin wird, sterbe ich.
    Ich hatte angefangen, mir das Zaubern beizubringen. Mein eingebildetes früheres Leben als »Der große Camillo« hatte mich auf diese Idee gebracht. Cord hatte ein Buch für mich entdeckt, das Blacks Buch der Magie hieß. Es war alt

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