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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Steptänzer, da man Steptanzen nicht mimisch darstellen kann. Andererseits ist Steptanzen aber eine Art Pantomime, die Pantomime einer inneren Musik, die niemand außer einem selbst hört.
    Hinzu kam noch etwas anderes. Keine der Frauen, mich eingeschlossen, ist je etwas gewesen. Wir hatten nie einen Beruf. Mutter und Ehefrau zu sein ist kein Beruf. Das kann man nicht pantomimisch darstellen. Nur Alice hatte einen. Sie ist Putzfrau an der Londoner Börse gewesen. Der Boden hat eine Fläche von fast zweitausend Quadratmetern, und diese ganzen zweitausend Quadratmeter mußten jeden Abend geputzt werden. Alice hat mir erzählt, daß es diese riesige Ausdehnung war, die sie hatte wünschen lassen, kein Mensch mehr zu sein.
    Ich erklärte ihr, worum es bei einer Pantomime ging. Sie unternahm daraufhin einen Versuch. Sie kniete sich nieder und stellte erst einen Eimer, dann einen Lappen dar, und alle riefen sofort: »Putzfrau!«, »Scheuerfrau!«, »Putzteufel!« und »Aschenputtel!« Anschließend tat sie so, als hebe sie Sachen vom Boden auf und schaue sie sich an, und niemand wußte, was das sein könnte, und sie gaben auf. Beim richtigen Was bin ich? gibt das Rateteam niemals auf. Sie sind berühmt. Wenn man berühmt ist, kann man nicht einfach sagen: Ich gebe auf.
    Ich habe sie später gefragt: Was hast du da aufgehoben, Alice? Zuerst antwortete sie: Stroh, Körner, Pellets, Würmer – also all ihren Hühnerkram. Dann hatte sie eine Erinnerung an ihre Zeit als menschliches Wesen und sagte: Ach, Estelle, du kannst dir nicht vorstellen, was sie dort alles hingeworfenhaben, was reingebracht worden oder vom Dach gefallen war. Ich fand seidene Taschentücher, Spielkasinochips, ein Kaurischneckenhaus, eine Zündkerze und eine tote Taube. Ich fand ein Diamanthalsband und ein Kartenetui aus Krokodilleder und eine ganze Reihe Pariser, benutzte und unbenutzte.
    Ich sagte: Nein, Alice, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.
    Der Steptänzer hieß Joseph. Eines Abends, als das Fernsehgerät ausgeschaltet und das Licht angemacht worden war und wir blinzelnd in unseren beiden Reihen saßen, stand Joseph auf und fing zu tanzen an. Er hatte seine Stepschuhe angezogen, die so schwarz und glänzend wie die Fred Astaires sind. Alle wurden still.
    Alice legte sich eine Kralle über den Schnabel.
    Er brachte uns alle zum Schweigen, sogar die Schwestern und Ärzte. Schnicketi-schnick, klicketi-klick. Und immer weiter. Das war das Beste, was je im Mountview geschah. Als er aufhörte, um Luft zu holen, klatschten, trampelten und schrien wir und warfen die ganzen harten Stühle um.
    Nun bin ich also zu Hause. Und ich schreibe:
    Liebe Alice,
    wie geht es Dir? Ich bin jetzt zu Hause, und mein Vater ist zu Besuch. Er bringt Mary das Marmorieren auf Japanpapier bei. Überall an ihren Zimmerwänden hängen marmorierte Blätter. Mindestens dreißig. In die rechte untere Ecke eines jeden hat sie »Martin W.« geschrieben.
    Sonny spart auf einen Mähdrescher. Er hat mir in einem Landwirschaftsmagazin die Fotografie eines Mannes namens Roland Dudley auf seinem Hof Linkenholt Manor Farm in der Nähe von Andover gezeigt und zu mir gesagt: Roland Dudley hatte schon vor dem Krieg einen Mähdrescher, Estelle, und nun hör dir seine Worte an: »Wenn der Ingenieur für die Ernte verantwortlich ist, muß der Bauer auf dem Feld keine Garben aufstellen, diese nicht auf Wagen laden und im Herbst nicht dreschen.« Und ich habe erwidert: Nun, Sonny, dann sieh nur zu, daß du das Geld für den Mähdrescher nicht vertrinkst...
    Timmy ist jetzt neun Jahre alt und singt im Kirchenchor. Er hat eine so helle und süße Stimme, daß einem die Tränen in die Augen steigen. Er ist sehr dünn. Seine kleinen Schulterblätter zeichnen sich unter dem weißen Spitzending ab, das er im Gottesdienst trägt. Neulich abends hat er mich gefragt: Ist Jesus überall, oder gibt es auch ein paar Orte, wo er nicht ist? Ich wollte sagen: Es gibt Tausende von Orten, wo er nicht ist. Im Dunkeln, wenn ich neben Sonny liege, ist er nicht bei mir. Er ist nicht am Fluß, wenn ich Brunnenkresse hole. Man hat ihn noch nie in Was bin ich? gesehen. Doch ich sagte nur: Das weiß ich wirklich nicht, Tim.
    Habe ich Dir schon mal erzählt, Alice, daß meine Mutter Segelfliegerin gewesen ist? Sie liebte es, England von oben zu sehen, hübsch und flach, wie eine Landkarte von sich selbst. Und so schien mir am Ende auch alles im Mountview zu sein, nachdem ich mich erst einmal daran gewöhnt hatte:

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