Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

werden.
    Nachdem Ernie sein Leben zehn oder fünfzehn Minuten lang bewundert hatte, stand er auf, nahm ohne Grace zu wecken seine Kleider und begab sich auf Zehenspitzen hinunter, wo er sich anzog.
    Dann ging er in den Laden. Er sah die Sonne hinter den rosa getünchten Häusern auf der anderen Straßenseite aufgehen und wußte, daß es ein schöner Tag werden würde.
    Er legte sich die Schürze um, schärfte ein Messer und ein Hackbeil und stellte ein sauberes Tablett bereit. Dann ging er zum Kühlraum und nahm ein halbes Dutzend Stockenten vom Haken. Pete und Walter hatten sie schon gerupft und ausgenommen, doch sie besaßen noch ihre geschmeidigen Köpfe und Schwimmfüße. Ernie legte sie auf die Fleischbank und machte sich an die Arbeit. Mit dem Hackbeil schlug er die Köpfe und Füße ab, dann rupfte er überall noch ein wenig nach. Schließlich umwickelte er die Vögel mit flinken, sicheren Bewegungen, rundete die Brüste und legte sie aufs Tablett.
    Die Sonne stieg höher und schien gelb auf das leere Schaufenster. Ernie drehte sich um und sah hinüber. Er dachte an den Ostersonntag, an Osterglocken und Forsythien in der Kirche und an Vasen mit von Kindern gepflückten Schlüsselblumen. Er dachte: Überall herrscht Frieden.
    Ernie arbeitete ruhig weiter. Er war jetzt neunundvierzig Jahre alt und seit Kriegsende immer glücklich gewesen.
    Für den Bruchteil einer Sekunde sah er von der Fleischbank auf, weil er sich einbildete, inmitten der morgendlichen Stille das Klingeln der Ladentür gehört zu haben.
    Seine rechte Hand hätte auf dem Weg von der Schulter nach unten innehalten sollen, doch das tat sie nicht. So landete das Hackbeil auf seinen drei Fingern, die auf dem Entenhals lagen, und schnitt sie direkt oberhalb der Fingerknöchel ab.
    Er sah, was passiert war. Er sah seine drei Fingerkuppen auf der Fleischbank liegen und dachte: Da habe ich jetzt etwas Verhängnisvolles angerichtet, ich habe etwas getan, was keinEnde und keine Lösung hat. Doch als er dann den Schmerz spürte, sagte er sich: Es ist schon in Ordnung so. Ich habe mich dagegen gewappnet. Deshalb bin ich im ersten Morgengrauen mit meiner Vision vom schönen Leben aufgewacht – um mich gegen das hier zu wappnen. Denn all das wird den Sieg davontragen: der wolkenlose Frühlingshimmel, die Osterglocken, der Schimmer des Grases und der unschuldige Stolz auf die gold-blauen Buchstaben Arthur Loomis & Sohn, Hausgemachte Fleischerwaren. Das wird siegen. Ganz bestimmt.
    Er bewegte sich also nicht von der Stelle. Er sah sein Blut in die grünen Federn des Entenkopfes sickern und diese braun färben. Nach wenigen Augenblicken merkte er auch, daß die Ente in einer Blutlache lag und daß sich dieses Blut über die Fleischbank ausbreitete und wie warmes Öl in seine Schürze drang.
    Seine rechte Hand verlor alle Kraft und ließ das Hackbeil los, das klirrend auf den Boden fiel.
    Dieses Geräusch hätte Grace oben im Schlafzimmer vielleicht wecken können, doch das tat es nicht. Der Sonntagmorgenschlaf war kostbar, und sie drehte sich um, seufzte und träumte weiter.
    Als Ernie zum Schaufenster blickte und dort keine Sonne mehr sah, versuchte er sich in Bewegung zu setzen. Der Schatten seines Gegners war so groß, daß er alles Licht nahm, und erst jetzt kam ihm der Gedanke, daß er den Kampf vielleicht nicht gewinnen würde. Daher wollte er zu Graces kleiner Kabine gehen, wo in einer Holzschublade Verbandsmaterial aufbewahrt wurde.
    Er fiel hin. Er konnte keinen Schritt mehr tun. Ist schon gut, dachte er, ich liege auf dem Boden, doch was soll’s, dann werde ich eben über die Fliesen kriechen oder rutschen wie ein Aal. Schließlich ist ja nicht nur ein Verband von Bedeutung, sondern alles, was ich gedacht und gefühlt habe...
    Doch er hatte vergessen, was er gedacht und gefühlt hatte. In seinem Kopf sah es hohl und dunkel aus. Er wußte, daßalles, was darin gewesen war, noch existierte, noch irgendwo jenseits davon lag, noch da draußen im stillen Morgen war.
    »Es ist da!« sagte er laut. Und dann stieg wie das Flackern einer schwachen Flamme in der Dunkelheit eine Frage, eine letzte Frage in ihm auf: Gehört es mir denn nicht mehr?
    Sein Blut war fast eine Stunde lang geflossen, als Grace ihn um halb acht fand. Er war seit neun Minuten tot.
    Sie schrie auf. Walter kam in seinem Flanellschlafanzug die Treppe heruntergestürzt. Sie knieten in der Blutlache und klammerten sich aneinander. »Es kann nicht sein. Es kann nicht sein. Es kann nicht