Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
und schwer und mit Holzschnitten von Männern in Fräcken illustriert, die alle so aussahen, als könnten sie sich nicht bewegen und wären ihre eigenen Wachsfiguren. In der Einleitung hieß es: »Wer Zauberkünstler werden will, macht sich zum Meister des scheinbar Unmöglichen. Er scheint in seiner Welt den Naturgesetzen zu trotzen. Er führt seinen Zuschauern ebendas vor Augen, was zu sehen diese nie für möglich gehalten hätten.« Ich dachte, daß mein Leben voll von Dingen gewesen war, die zu sehen ich nie für möglich gehalten hatte: Marguerite, die vom Baum herunterflog und auf Timmys Kopf landete; der Dampf, der im Wartezimmer des Zahnarztes von Walter Loomis aufstieg; die Stalaktitendecke im Mountview; Irene, die in blauer Seide Mr. Harker heiratete; und jetzt Lindsey Stevens’ erschöpfende Schönheit.
Ich übte meine beiden ersten Tricks zunächst zu Hause vor dem Spiegel ein, dann führte ich sie Cord und schließlich meiner Mutter vor. Die Tricks hatten Namen. Sie hießen »Die wandernden Initialen« und »Die klassische Palmage«. »Die eigentliche Zauberkunst«, hieß es in Blacks Buch , »liegt in der Präsentation des Tricks.« Es wurde erklärt, daß man alle Methoden, die Zuschauer abzulenken, erlernen mußte. Sie mußten dahin schauen, wo sie hinschauen sollten, und nicht dahin, wo man seinen heimlichen Kunstgriff vollführte. Diese Technik nannte man Lenken der Aufmerksamkeit.
Cord war ein guter Zuschauer, meine Mutter ein schlechter. Ihr Blick schweifte umher. Man konnte sich nicht darauf verlassen, daß sie da hinschaute, wo sie hinschauen sollte. Eswar, als wäre sie ständig, Tag für Tag, auf der Suche nach etwas nicht Vorhandenem.
Cord merkte das. Als ich mein Sprüchlein aufsagte: »Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt ein Zwei-Shilling-Stück in meiner Hand«, und meine Mutter nicht darauf, sondern zur Decke schaute, meinte Cord: »Komm, Est, paß auf! Beobachte Martins Hand.« Ich wartete einen Moment, bis sie auf mich blickte, und fing noch einmal von vorn an: »Meine Damen und Herren, bitte achten Sie genau auf dieses Geldstück...«
Meine Mutter fragte: »Warum nennst du sie Martin?«
Cord sagte: »Pst, Stelle. Es ist nur ein Spitzname.«
Ich fing zum drittenmal von vorn an, und jetzt beobachtete sie mich so konzentriert, als wäre ich der große Camillo, und für einen kleinen Moment – während der Sekunden, die ich brauchte, um die Finger meiner linken Hand zu öffnen, um zu zeigen, daß die Münze nicht, wie sie vermuteten, darin war – wurde mir warm unter ihrem Blick.
Ich hatte die klassische Palmage so oft vor dem Spiegel geprobt, daß ich sie jetzt recht gut beherrschte. Ich konnte Staunen hervorrufen. Ich sah dieses Staunen zum erstenmal bei Cord und meiner Mutter. Der Trick gelang. Sie lächelten und klatschten. Und darüber dachte ich nach, als ich Lindsey Stevens sah. Ich dachte: Jetzt heißt es, meine Macht dazu zu benützen, Außergewöhnliches geschehen zu lassen.
Lindsey hatte schon eine Freundin, die Jennifer hieß. Die beiden liefen Arm in Arm im Schulhof auf und ab. Jennifer hatte einen Lockenkopf. Sie schenkten mir keine Beachtung.
Nach dem Vormittagsunterricht ging ich zu Lindseys Pult und fragte: »Möchtest du ein Zauberkunststück sehen?«
Lindsey hatte eine wunderschöne Haut. Ganz ohne Sommersprossen oder andere Flecken. Sie sagte: »Ich muß gehen, wirklich.«
Ich holte einen halben Penny aus meiner Blazertasche und führte ihr den Münztrick vor, bevor sie noch ihre Bücherwegpacken konnte. Ich wartete auf ihr Staunen, und als ich es sah, dachte ich: Der Anfang wäre also gemacht.
Sie fragte: »Kannst du noch mehr Tricks?«
Ich antwortete: »Ja. Möchtest du noch einen sehen?«
Sie wandte sich Jennifer zu, die zu ihr herübergekommen war, und sagte: »Marty kann zaubern.«
»Wirklich?« fragte Jennifer.
»Mein Großvater war ein berühmter Magier«, erklärte ich.
»Wie hieß er denn?« wollte Lindsey wissen.
»Er nannte sich ›Der große Camillo‹.«
»Ich habe noch nie etwas von ihm gehört«, sagte Jennifer.
»Er starb sehr jung. Er wurde von einem Rivalen erdrosselt.«
»Erdrosselt?«
»Ja. Mit zusammengeknoteten Seidentüchern in allen Farben.«
»Warst du da nicht traurig?«
»Ich kannte ihn nicht. Er starb, als ich noch im Bauch meiner Mutter war.«
Inzwischen umdrängten uns auch andere Mädchen. Ich hatte ihre Aufmerksamkeit auf mich gezogen.
Ich sagte: »Wenn mir jemand aus der Küche unten ein Stück Zucker
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