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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sie wollte diese nebeneinander unter die undichten Stellen in ihrem Zimmer stellen und darüber wachen, wie die Leute auf den Märkten in Bombay über ihre Gewürzschalen wachten. Es würde merkwürdig klingen, wenn die großen Monsunregentropfen hineinfielen.
Timmys Winkel (1)
    Timmy Ward hatte die Aufnahmeprüfung für die Grammar School nicht bestanden. Beim Dividieren durch große Zahlen kam es ihm so vor, als bildeten diese eine Schlange vor einem Tor. Man mußte das Tor öffnen und sie hindurchlassen, aber es ging nicht. Und dann seine Rechtschreibung! Er dachte, in »Welt« wären die ersten beiden Buchstaben ein w und ein l und »Amerika« würde mit y geschrieben.
    Sie schickten ihn nach Leiston in die Secondary Modern School. Er hatte große Mühe zu verstehen, was ein Querschnitt war. Mit einem Bunsenbrenner setzte er seine Haare in Brand. Und er dachte, die Luft, die man in dieser Schule zu atmen bekommt, ist verbraucht. Sie ist schon einmal geatmet worden. Man kann nicht mehr richtig hindurchsehen.
    Am Freitagnachmittag ging die Klasse ins Hallenbad von Leiston schwimmen. Ein blasses grünliches Licht fiel aufs Wasser und die weißen Arme und Beine der Kinder. Wer nicht schwimmen konnte, wurde, mit einem Gurt an einem langen Stock befestigt, rauf und runter gezogen wie ein Schleppkahn von seinem Pferd. Einige hatten Angst vorm Wasser, Timmy jedoch nicht. Hier im Schwimmbad schien die Luft zu leuchten, und wenn er, nahezu schwerelos, zum Kopfsprung von den rutschigen Fliesen ansetzte, um dieBreite des Beckens zu durchschwimmen, war er so glücklich wie ein Frosch.
    Auf die Breiten folgten die Längen. Der Schwimmlehrer war überrascht, wie schnell er war. Timmy war klein für sein Alter und machte einen verträumten Eindruck. Er würde sich in einer Mannschaft merkwürdig ausnehmen. Der Schwimmlehrer sagte zu seiner Frau: »Wir haben da einen kleinen Jungen von der Secondary Modern. Ich habe noch nie ein Kind so schwimmen sehen.«
    Nur am Sonntag in der Kirche fühlte sich Timmy ähnlich glücklich wie beim Schwimmen. Er sang noch immer im Kirchenchor. Er wußte, daß so manchem Erwachsenen beim Klang seiner hohen Stimme die Tränen in die Augen traten. Die Luft über dem Chorgestühl machte nicht den Eindruck, als wäre sie schon einmal geatmet worden, und das Licht, das durchs Buntglasfenster fiel, war so klar wie das Wasser.
    Er malte sich aus, daß sein Körper beim Schwimmen einer imaginären horizontalen Linie folgte, die ihn vorwärtstrieb. Und daß er seine Stimme beim Singen der Kirchenlieder an einem unsichtbaren vertikalen Draht nach oben schickte.
    Diese beiden Linien bildeten in seiner Vorstellung einen 90°-Winkel. Ein 90°-Winkel war eine einfache Sache, und das machte ihm Hoffnung, daß sich all die anderen, komplizierteren Rechnungen, die er in der Schule nicht verstand, irgendwann einmal als überflüssig erweisen würden. Doch hätte er gern gewußt, wo die beiden Schenkel seines Winkels hinführten. Hörten sie einfach im leeren Raum auf oder gingen sie weiter, bis sie mit etwas zusammenstießen?
    Er machte sich – mitten im Unterricht und während der Mahlzeiten, die schweigend vor Estelles Fernseher eingenommen wurden – auf die Suche danach, womit sie zusammenstoßen könnten, vermochte aber außer den beiden Linien, der einen, die immer weiter weg-, und der anderen, die immer höher hinaufführte, nichts zu entdecken.
    Er wollte Estelle von seinem Winkel erzählen. Er holte siein sein Zimmer, bot ihr einen Stuhl an und schloß die Tür. Estelle konnte es nicht ertragen, wichtige Dinge erzählt zu bekommen. Sie wollte, daß nichts wichtig war und nichts eine Rolle spielte. Sie stand wieder auf und lief in Timmys Zimmer umher, sah sich an, was er an den Wänden aufgehängt hatte, darunter auch eine Aufstellung der Sieger im Schwimmen der Männer bei der Olympiade von 1960, und begann laut vorzulesen: »J. Devitt (Australien), 100-m-Freistil, 55.2 Sek.; M. Rose (Australien), 400-m-Freistil, 4 Min., 18.3 Sek. ...«
    »Bitte setz dich doch«, sagte Timmy.
    »Ja, Tim«, erwiderte sie, setzte sich aber nicht. Sie betrachtete ein staubiges Kreuz aus Palmenzweigen, eine Reihe Lebensrettungsinstruktionen mit Bildern von einer ertrinkenden Person, von der man wirklich nicht sagen konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen, ein Kind oder ein Mann war, und eine Fotografie von ihr selbst und Sonny, wie sie – beide ohne zu lächeln – vor dem Mähdrescher standen.
    Sie erklärte:

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