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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Geheimnisse sind bei mir nicht gut aufgehoben. Ich vergesse immer, sie zu bewahren. Du solltest mir lieber keine anvertrauen.«
    Daher überlegte es sich Timmy anders mit seinem Winkel. Er sagte: »Es ist kein Geheimnis. Ich wollte dich fragen, ob du zum großen Schwimmfest in Ipswich kommen kannst.«
    Sie lachte. »Zum großen Schwimmfest! Was für ein Ausdruck!«
    »Kommst du?«
    Sie sah überrascht aus. »Gibt es da auch Kunstspringen?«
    »Ja«, antwortete Timmy.
    »Auch Turmspringen?«
    »Ja.«
    »Das würde ich gern sehen.«
    »Du kommst also? Ich gewinne vielleicht das Delphinschwimmen der Jungen unter dreizehn.«
    »Natürlich«, sagte sie, »wenn es nicht zu vornehm ist, solange niemand so tun muß, als ob es vornehm wäre.«
    Und dann erklärte sie Timmy, daß sie gehen müsse, da es Zeit für Hancocks Half-Hour sei und sie keine ihrer Lieblingssendungen versäumen wolle.
    Timmy wußte, daß sein Vater das mit der horizontalen und vertikalen Linie nicht verstehen würde, aber er brauchte jemanden, der darüber nachdachte, wohin sie führten und ob sie möglicherweise einmal aufhörten. Daher ging er spät in der Nacht in Marys Zimmer und leuchtete ihr mit seiner Woolworth-Taschenlampe ins schlafende Gesicht. Ohne sich zu bewegen, öffnete sie die Augen und blickte ins Licht. Ihr Kopfkissen war aufgebauscht, und darunter sah Timmy einen Haufen Bandagen. Noch immer ohne sich zu bewegen, sagte Mary: »Timmy, verpiß dich!«
    Er drehte sich um und kehrte zu seinem Bett zurück. Er dachte über die Bandagen nach und wie widerlich ihr Anblick gewesen war. Er war hingegangen, um über ein Geheimnis, seinen Winkel, zu sprechen, und statt dessen hatte er nun diese Bandagen gesehen, die – das merkte er an der Art, wie sie unter das Kissen gestopft waren – Teil eines schrecklichen Geheimnisses von Mary waren.
    Er sprach sein Abendgebet und ließ sie darin aus. Er dachte, wie dumm es doch von ihm gewesen war, anzunehmen, seine Schwester, die an nichts und niemandem außer an sich selbst, ihrer Schule, Cord und den Harkers interessiert war, könnte ihm irgend etwas Hilfreiches über einen imaginären 90°-Winkel sagen.
    Er beschloß, Sonny, wenn er nach der Schule mit ihm die Hühner fütterte, zu erzählen, was er in der Nacht in Marys Zimmer gesehen hatte. Sonny würde etwas unternehmen. Er würde sich Mary vorknöpfen.

Bäume im Wald, lang ist’s her
    Und Sonny unternahm etwas.
    Er schlang seinen linken Arm um Marys Hals und drückte sie gegen seine Brust. Mit der rechten Hand zerrte er ihr die Schulkrawatte herunter und öffnete ihr Hemd. Sie schrie. Sie versuchte seine Hand wegzustoßen und trat ihn gegen das Schienbein.
    Er legte die elastischen Binden frei. Sie waren inzwischen grau geworden. Mary hätte sie heimlich waschen und zum Trocknen aus ihrem Fenster hängen können, doch etwas in ihr hatte sich geweigert zu glauben, daß sie diese weiter benötigen würde.
    Sonny schob sie vor sich her zum Küchentisch. Sie zerkratzte seinen Arm. Er zog eine Schublade auf und holte die Küchenschere heraus. Sein Handgelenk lag über ihrer Luftröhre, so daß er sie würgte. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Augen stieg und die Knie weich wurden.
    Sonny schnitt in der Furche zwischen ihren Brüsten in das Bandagenpolster. Die Schere war stumpf, und die Bandagen waren siebenfach um sie gewickelt. Eine Schneide grub sich in ihr Brustbein, so daß sie einen blauen Fleck bekam.
    Es gelang ihr, den Hals von dem würgenden Handgelenk zu befreien, indem sie mit dem Kopf gegen Sonnys Brust stieß. Durch seinen Atem beschlugen ihre Brillengläser. Er atmete schwer vor Anstrengung. Sie konnte seinen Körper riechen, mit dem sie nicht mehr in Berührung gekommen war, seit sie als kleines Mädchen auf seinem Arm gewesen war. Sie fühlte sich entsetzlich elend, als breitete sich überall in ihr ein Gift aus.
    Sie fing zu weinen an. Das hatte sie nicht tun und ihn nicht sehen lassen wollen, solange sie lebte. Daß sie nie weinte, hatte ihr Hoffnung gemacht. Und nun schluchzte sie und konnte nicht wieder aufhören. Sie flehte ihn an, sie loszulassen. Sie schrie und bettelte.
    Als es ihm gelungen war, die Bandagen durchzuschneiden,zog er ihr Hemd zurück. Er nahm ihre Brüste in die Hände und schob sie hoch, um sie ihr zu zeigen. Er sagte: »Sieh sie dir an! Los! Sieh sie dir an!«
    Sie hielt die Augen geschlossen. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften auf Sonnys Hände. Sie dachte: Das ist der schlimmste

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