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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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konnte,dachte er an den Abgrund. Er versuchte abzuschätzen, wie nah heran er jetzt gekommen sein mochte. Von seinem Zimmer aus blickte man aufs Meer. Er lag still da und lauschte auf knackende Geräusche unter sich, hatte jedoch keine Angst. Er strich sich über den Bart und war bereit für Blitz und Donner, für eine Umwälzung. Schwester Anstruthers Tod hatte ihn durch seine Plötzlichkeit und Schnelligkeit, seine glorreiche Endgültigkeit in Hochstimmung versetzt. Er dachte: Wenn das geschehen kann, kann alles geschehen. Dann ist nichts unmöglich.
    Seine Mutter klopfte an die Tür. In einem Marmeladenglas hatte sie eine brennende Kerze und im Haar gelbe Lockenwickler. »Wir haben keinen Strom«, sagte sie.
    Sie machte sich um ihre Birnbäume Sorgen. Den Abgrund erwähnte sie nicht. Sie sagte, sie hoffe, die Fischereiflotte sei nicht draußen.
    Gilbert zog seinen seidenen Morgenrock über. Sie gingen in die Küche hinunter, und Margaret Blakey holte ihren Kocher vom Krieg heraus und setzte Teewasser auf. Gilbert rauchte eine du Maurier. Mit seinem seidenen Morgenrock und seinen schönen gepflegten Händen hätte man meinen können, er sei in einem exklusiven Londoner Club und spiele eine Partie Bakkarat.
    Margaret dachte: Er sollte nicht hier bei mir sein, sondern weit weg, bei Frauen seines Alters.
    Nach einer Weile, nachdem sie den Tee zubereitet hatte, sagte sie: »War dieses Unwetter angekündigt, Gilbert?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Man kann dem Wetterbericht sowieso nicht glauben.«
    Margaret bot ihrem Sohn ein Plätzchen an, doch dieser lehnte ab. Er wünschte, sie würde ihre Plätzchen nicht in einer Dose aufbewahren, die nach Schweineschmalz roch. Der Tod seiner Zahnarzthelferin hatte ihn plötzlich ungeduldig mit kläglicher Routine gemacht.
    Das Unwetter weckte alle in Swaithey auf.
    Edward Harkers Keller war 1950 schon mal bei einem Wolkenbruch überschwemmt worden, und als er jetzt aufwachte, dachte er darüber nach, was er alles auf dem Werkstattboden hatte liegenlassen: die Weidenbretterstapel, das Sägemehl und die Späne, die öligen Lappen und Schnurreste. Er stellte sich vor, wie das Wasser durch den kleinen Luftschacht und am Scharnier des auf Straßenhöhe liegenden Fensters hereinlief, und seufzte. Er haßte Wasser. Er war noch nie im nahe gelegenen Seengebiet der Broads oder im Lake District gewesen. Vor seiner Begegnung mit Irene hätte er sein ganzes Leben als »trocken« beschrieben.
    Es war kalt im Schlafzimmer. Er weckte Irene unter dem Vorwand, sie trösten zu wollen. Er wollte mit ihr zusammen daliegen und über Kricket oder Sputniks plaudern, bis das Unwetter vorüber war. Doch kaum hatte er sie berührt, da war sie auch schon auf, warf den Morgenmantel über und suchte nach Teelichtern. Ihr erster Gedanke galt Billy. Sie mußte ihn aus seinem Bettchen zu sich holen, damit er keine Angst hatte.
    »Weint er schon?« fragte sie Harker, während sie ein Teelicht anzündete. »Kannst du ihn weinen hören?«
    »Nein«, antwortete Harker, »Billy schläft wie ein Toter.«
    »Wie ein Toter? Wie kannst du nur so etwas sagen!«
    Als sie die Schlafzimmertür öffnete, meinte sie: »Edward, ich höre irgendwo hier drinnen Wasser.«
    »Ja«, erwiderte er. »Im Keller. Hol mir mal die Petroleumlampe, dann gehe ich hinunter.«
    »Hol sie bitte selbst«, entgegnete Irene. Und weg war sie. Ihre Rolle als Harkers Dienstmädchen gehörte der Vergangenheit an.
    Wenig später kamen sie zurück, ein geisterhaftes Trio, das riesige Schatten warf: Irene trug den schlafenden Billy über der Schulter; Pearl in ihrem weißen Nachthemd hielt sich am Fuß ihres Bruders fest.
    »Edward«, sagte Pearl, »was ist, wenn uns das Dach über dem Kopf wegfliegt?«
    »Nun«, antwortete er freundlich, »dann bekommen wir eine gute Aussicht auf den Himmel.«
    Pearl kletterte in das große Bett. Ihr langes zitronengelbes Haar breitete sich über Irenes Kopfkissen aus. Die Leute im Dorf hatten geglaubt, daß Pearls Babyschönheit im Laufe der Jahre verschwinden würde, doch das war nicht der Fall gewesen. Sie war jetzt zehn und wußte, daß sie schön war.
    Billy wachte auf. Er sah seine Mutter und das flackernde Licht und nieste. Irene strich ihm übers Haar und sagte, er solle keine Angst vor dem Unwetter haben. Er lächelte und winkte seiner Familie wie ein kleiner, dicker Kaiser zu. So leicht machte ihm nichts angst.
    »Willst du nicht mal hinuntergehen?« fragte Irene.
    »Doch«, sagte Harker. »Ich

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