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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gehe hinunter.«
    Billy strampelte sich aus Irenes Armen frei, rannte zu ihm hin und umklammerte sein Bein. »Ich gehe in den Keller!« verkündete er.
    »Nein, Billy«, entgegnete Harker, »bleib bei Mum und Pearl.«
    »Nein«, widersprach Billy.
    Er hielt Harkers Bein so fest, daß dieser es nicht bewegen konnte.
    »Es ist kalt im Keller«, sagte Irene. »Du wirst dir einen Schnupfen holen.«
    »Ich gehe in den Keller«, wiederholte Billy.
    »Ich nehme ihn mit«, gab Harker schließlich nach.
    Irene zündete noch ein Teelicht an und reichte es Harker. Er nahm seinen Sohn auf den Arm und hielt das kleine Licht vor sich. Zusammen gingen sie durch das dunkle Haus und lauschten auf das, was das Unwetter auf der Straße anrichtete: Es riß die Deckel der Mülleimer hoch, blies Milchflaschen um und ließ die Dachpfannen von den Dächern purzeln.
    In der Küche machte Harker die Petroleumlampe an. Er öffnete die Tür zum Keller. Es war kalt. Es klang, als sei da unten ein Feuer, das einen Hügel hinunterrast.
    »Wasser«, sagte Billy.
    Harker setzte Billy auf die Treppe und befahl ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sich nicht zu bewegen war ein unerträglicher Zustand für Billy Harker. Er beobachtete, wie sein Vater in den schwarzen See watete, sah die sich kringelnden Späne wie Boote auf dem Wasser tanzen und brach in Lachen aus.
    »Das ist nicht komisch, Billy«, sagte Harker, »das ist eine Überschwemmung.«
    Doch dann dachte er: Nun, vielleicht ja doch. Vielleicht ist es ja wirklich komisch. Nicht nur dieser Fluß in meiner Werkstatt, sondern alles. Denn hier war ich einst, ein stiller Mensch mit nur einer Leidenschaft, den Schlägern, eine frühere Nonne, Ruhe und Ordnung liebend. Und jetzt ist da nicht nur Irene. Nicht nur sie. Da ist auch Billy. Er tobt durchs Haus, wenn er spielt, daß er ein Auto ist. Er benutzt sein Bettchen als Trampolin. Er schlägt Purzelbäume im Flur.
    Pete Loomis hatte den Sturm schon lange, bevor er kam, gespürt. Er machte sich einen Kaffee und saß dann im Bus und wartete auf ihn.
    Der Bus schwankte. Würde er nach all den Jahren als Linienbus und dann als sein Heim jetzt davongeblasen werden?
    Pete nippte an dem siedendheißen Kaffee und beschloß, sich in Erinnerungen an Memphis zu ergehen. Er summte die Gospelmelodie Dust on the Bible vor sich hin und stellte sich vor, wie er an der Bar seines Lieblingsschuppens Jo Ann’s Lounge saß. Draußen in der Nacht braute sich ein Unwetter zusammen. Immer mehr Lampen flackerten und gingen aus. Er hatte es da noch nicht gewußt, doch in dieser Nacht, in der das Unwetter über Memphis hereinbrach, sollte Pete Loomis das Mädchen kennenlernen, das seinem schönen Leben in Tennessee ein Ende bereiten würde.
    Sie kam in die Kneipe, setzte sich neben Pete und bestellte eine Schokoladenmilch. Sie zitterte in ihrem Baumwollkleid mit den kurzen Ärmeln.
    Pete trank Kaffee und plauderte mit Jo Ann. Tennesseehatte eigentlich ein trockenes Klima. Jo Ann sagte, sie habe zwar keine Kerzen, aber eine Tonne Seife. Ob man Seife anzünden könne, wenn die Lichter ausgingen? Pete erwiderte, daß es vielleicht gehe, wenn sie eine Lampe hätten. Wenn man die Seife schmelze, da hineinfülle und den Docht anzünde. Das Mädchen im Baumwollkleid auf dem Hocker neben ihm sagte: »Das ist Stuß, Mister. Warum reden Sie einen solchen Stuß über Seife?«
    Pete lachte. Er hatte bemerkt, daß das Mädchen ein hübsches Gesicht hatte. Er sagte, daß achtundsiebzig Prozent dessen, was die Leute so erzählten, Stuß sei, daß es sie aber lebendig halte.
    Sie sah ihn durchdringend an. Sie hatte einen kleinen Schokoladenschnurrbart. Pete spürte, wie sein schielendes Auge wie eine Kompaßnadel umherirrte und versuchte, mit ihrem harten, starren Blick in Kontakt zu kommen. Er wußte, was sie gleich sagen würde, und er wollte nicht, daß sie es sagte. Wenn er sie reden ließ, würde sie eine Bemerkung über seine Häßlichkeit machen, und das konnte er nicht ertragen – nicht in diesem Augenblick, in dem sich ein Unwetter zusammenbraute und keine Kerzen da waren. Deshalb sagte er: »Ich weiß, was Sie denken, Miss. Doch Sie machen da einen Fehler. Ich heiße Pete und komme aus England, und ich kann Ihnen versichern, daß in mir viel Gutes und Schönes ist. Man kann diese Schönheit nur nicht sehen.«
    Sie wandte sich lächelnd ab.
    Es war ein verlegenes, belustigtes Lächeln. Jo Ann lachte, und auch die umstehenden Musiker lachten. Pete dachte: Nun denn, ich

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