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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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daß sie ihn nicht mehr tragen konnte, woanders ankommen würde, und das tat sie dann auch.
    Sie kam bei Miss McRae an.
    Miss McRae war bei einem einsamen Bücklingsabendessen. Sie war jetzt im Ruhestand und wurde in der melancholischen Düsternis ihres Häuschens allmählich alt. Als sie Mary mit dem Koffer sah, dachte sie: Jetzt kann ich mich wieder nützlich machen. Gut so.
    Sie brachte die erst zur Hälfte verzehrten Bücklinge in die Küche und bereitete eine Kanne Tee. Sie reichte Mary eine ihrer guten Porzellantassen, und Mary fragte: »Hatten Sie dieses Porzellan schon im Leuchtturm?«
    »Ich weiß es nicht mehr, meine Liebe«, antwortete Miss McRae. »Das ist das Ärgerlichste am Altwerden – daß man sich nicht mehr erinnern kann.«
    Mary brachte den Tee kaum herunter. Sie fragte sich, ob Sonny vielleicht ihre Speiseröhre verletzt hatte.
    Miss McRae sagte: »Laß dir Zeit, Mary! Laß dir Zeit!«
    Mary meinte: »Jetzt, da ich hier bin, traue ich mich nicht, es Ihnen zu sagen. Ich traue mich nicht, es überhaupt jemandem zu sagen.«
    »Nun, ich sehe an deinem Schläger, daß du Hockey gespielt hast. Möchtest du darüber sprechen? Wo stehst du im Feld?«
    »Ich bin Flügelspieler«, antwortete Mary. »Ich kann sehr schnell rennen.«
    »Das konntest du schon immer. Daran vermag ich mich noch zu erinnern.«
    Mary musterte das Zimmer. Es hatte eine sehr niedrige Decke, zu niedrig für Miss McRae, die nicht kleiner wurde wie manche älteren Leute, sondern aufrecht und groß wie eine Tanne blieb. Sie sah jetzt so aus, als könnte sie sich gar nicht mehr beugen, als wäre sie in ihren Sachen versteinert. Im Sitzen bildete ihr Körper auf dem Stuhl einen zwar steifen, aber perfekten rechten Winkel.
    Nach einer Weile, als sie etwas Tee getrunken hatte, sagte Mary: »Ich gehe nie wieder nach Hause zurück.«
    »Nein«, erwiderte Miss McRae.
    »Jemand muß mir helfen.«
    Lange Zeit herrschte Schweigen. Mary nahm die Brille ab und putzte deren Gläser mit dem Jackenärmel. Miss McRae saß absolut still und gerade da und wartete.
    Mary dachte: Vielleicht hätte ich es doch lieber Lindsey erzählen sollen. An jenem Abend in meinem Zimmer oder auch später. Vielleicht hätte sie mich gar nicht gehaßt, sondern mir irgendwie geholfen. Doch nun saß sie hier Miss McRae von Angesicht zu Angesicht gegenüber, in einem niedrigen Raum, der nach Bücklingen roch.
    Sie schämte sich auf einmal so sehr, daß sie sich schmerzlich wünschte zu verschwinden, tot und vergessen zu sein.
    Es herrschte weiterhin Schweigen. Mary setzte sich die Brille wieder auf die Nase. Jetzt stehe ich gleich auf und geheweg, ohne Ziel, und schlafe mich erst einmal auf einem Bohnenfeld oder in einem Heuschober aus, dachte sie.
    »Mary«, sagte Miss McRae, »kennst du eigentlich meinen Vornamen?«
    »Wie bitte?«
    »Ich heiße Margaret. Margaret McRae. Du hast meinen Vornamen vielleicht nicht gekannt und dachtest, er müsse ein Geheimnis bleiben. Doch das muß er nicht. Nicht vor jedem. Ich bin Margaret McRae. Du siehst also, manchmal denken wir, daß gewisse Dinge geheim sind, die es gar nicht sein müssen...«
    »Das ist ein Geheimnis! Meins ist ein Geheimnis!«
    »Dann mußt du es, wenn es nicht zu schwer zu tragen ist, für dich behalten. Nur wenn...«
    »Es ist aber zu schwer zu tragen!«
    »Nun, deshalb bist du ja hier, Mary. Weil es zu schwer geworden ist. Das ist alles. Es ist wie mit deinem Gepäck. Zu schwer. Irgendwann einmal kommt der Augenblick, da man es loswerden muß.«
    Erneut herrschte Schweigen. Mary wollte das nicht, doch es war wieder da.
    Da hatte sie eine Idee. Sie dachte: Wenn ich aufstehe und zum Fenster gehe und ihr so den Rücken zudrehe, kann ich es vielleicht sagen. Vielleicht. Wenn ich nicht auf sie, sondern auf ihr Gartentor, ihr Vogelbad und in die hereinbrechende Nacht blicke, dann ist es vielleicht einfacher.
    Sie ging zum Fenster. Sie versuchte sich vorzustellen, daß Miss McRae tatsächlich eine Tanne war, die nichts sah und nichts hörte und nur freundlich hinter ihr seufzte.
    Doch das klappte nicht. Nichts konnte jetzt noch funktionieren. Miss McRae hatte ihren Vornamen genannt. Man konnte doch einem Menschen, der freundlich zu einem gewesen war und einem aus Sympathie seinen Vornamen verraten hatte, nicht offenbaren, daß man zum Kotzen war.
    Mary klammerte sich am Fenster fest. Sie sah einen Vogel durch die Abenddämmerung fliegen und sich auf den Randdes Vogelbads setzen. »Ich bin wegen meines Vaters hier«,

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