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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht dabei. Ich erzählte es Cord, der zum Himmel blickte. Ich erzählte es Timmy, der erwiderte: »Ich muß jetzt zum Schwimmunterricht.« Ich erzählte es Lindsey, die lachte und sagte: »Heißt das, daß du nicht meine Brautjungfer werden kannst?« Ich erzählte es meiner Mutter, doch diese hörte nicht zu, weil sie gerade versuchte, sich den Text eines Perry-Como-Lieds ins Gedächtnis zu rufen. Ich entließ sie alle, und sie gingen fort, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen.
    Danach fiel mir wieder ein, daß Edward Harker an seinem Hochzeitstag zu mir gesagt hatte, alles in der Natur sei Auferstehung, und ich dachte, daß jemand, der an ein früheres Leben glaubte, der Richtige war – und er war die ganze Zeit dagewesen...
    Edward war gerade dabei, einen Schläger zu ölen. Er trug eine Kaufmannsschürze. Die Anordnung des Lichts in seinem Keller war noch dieselbe wie in meiner Kindheit. Der Geruch des Leinöls hing schwer, wie Weihrauch, im Raum. Er streichelte den Schläger mit seiner öligen Hand und meinte: »Ich werde langsam alt, Mary.«
    »Du kannst ein Geheimnis bewahren, Edward, nicht wahr?«
    Ich erzählte es ihm so, wie ich es dem Arzt erzählt hatte. »Es ist irgendwo ein Fehler gemacht worden, Edward, und den kann man nicht dadurch korrigieren oder erträglicher machen, daß man mir nicht glaubt.«
    »Ich glaube dir«, sagte er schnell.
    Wir ließen uns beide nieder, wo wir gerade standen. Ich setzte mich auf den Antriebskopf einer Drehbank mit Riemenantrieb, und Harker setzte sich auf seinen Schreibtisch und warf eine der Lampen um. Eine ganze Weile sprach keiner von uns beiden, und die Stille stand für ein Ende: Sie bedeutete das Ende meiner Isolierung.
    Ich sah Harkers Hand nach der umgeworfenen Lampe greifen, sie zurechtbiegen und genau da wieder hinstellen, wo sie gestanden hatte.

9. Kapitel
    1964
Marshall Street
    Jeden Donnerstag morgen wurde Timmy Ward in Sonnys Lieferwagen zum Bahnhof Saxmundham gefahren, wo er in den ersten Zug nach London stieg.
    Er war auf dem Weg zum Olympiaschwimmbecken in der Marshall Street. Er war fünfzehn Jahre alt und im Stimmbruch, so daß er nicht mehr im Kirchenchor von Swaithey singen konnte. Das fehlte ihm. Ihm fehlte die Reinheit seines eigenen Gesangs.
    Das Schwimmen schien jetzt das einzig Schöne zu sein, das ihm noch geblieben war.
    Ein Talentsucher, ein ehemaliges Mitglied des englischen Olympiaschwimmteams von 1956, war an Timmys Schule eingeladen worden. Er hatte seinen olympischen Trainingsanzug getragen, der nach achtjährigem Waschen recht verblichen war.
    Der Sportlehrer hatte zu ihm gesagt: »Der da drüben ist es, der dünne Junge mit dem dummen Lächeln auf Bahn 2.« Nachdem Timmy drei Längen Delphin geschwommen war, war der Talentsucher so beeindruckt, daß er Herzklopfen hatte. Er hatte zu Timmy gesagt: »Ich hole dich raus aus der Einöde der Fenlands, Timothy.« Timmy hatte erwidert: »Das hier sind nicht die Fenlands, Sir. Die sind hinter Cambridge.«
    »Wo immer sie auch sind«, hatte der Talentsucher gemeint, »ich hole dich da heraus.«
    Die Gruppe, der Timmy zugeteilt war, nannte sich »Die Otter«. Sie hatten drei Stunden, von zehn bis ein Uhr, intensives Schwimmtraining. Ihr Essen mußten sie selbst mitbringen. Von zwei bis drei bekamen sie dann Unterricht im Kunstspringen. Jede Woche einmal sagte man ihnen, daß ihr Land eines Tages stolz auf sie sein würde.
    Timmy war der kleinste der »Otter«. Er hatte große Angst vor dem Sprungturm, und im Laufe der Wochen fürchtete er sich immer mehr vor dem Tag, an dem er von diesem würde herunterspringen müssen. Der Gedanke, seinen Körper auf einer langen vertikalen Linie nach unten zu bewegen, hatte in seiner Vorstellung etwas Furchterregendes. Er fand es unfair, daß von ihm, weil er sich im Schwimmen hervortat, auch dieses andere, Schreckliche erwartet wurde. Selbst Estelle hörte nicht auf zu sagen: »Ich hoffe, du lernst Kunstspringen, Tim. Denn das ist es, worauf ich warte und mich freue.«
    Er hoffte, sie würde noch lange warten müssen, und entgegnete: »Ich bin nur im Delphinschwimmen gut.« Sie lächelte ihr geistesabwesendes Lächeln und sagte: »Die Schwimmstile haben so komische Namen – Kraulen, Delphin. Wer hat sich die bloß ausgedacht?« Timmy erwiderte, daß er das nicht wisse. Er wußte auf keine von Estelles Fragen eine Antwort. Kann man Steptanzen mimen? Was sind Träume? Wann hat die Geschichte ihren Anfang genommen? Die Fragen schwebten unbeantwortet im

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