Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
überlegt.«
»Was zu erzählen?« fragte der Arzt. Er schien es eilig zu haben.
»Daß ich eigentlich kein Mädchen bin. Nie eins gewesen bin. Höchstens, als ich noch ganz klein war, aber schon mit sechs nicht mehr, als der König starb. Seitdem...«
»Moment mal«, unterbrach mich der Arzt. »Was sagen Sie da?«
»Ich sage, daß ich, obwohl ich in gewisser Hinsicht den Körper eines Mädchens habe, nie das Gefühl hatte, ich meine, nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht eine Minute, ein richtiges Mädchen zu sein oder zu einer Frau heranzuwachsen. Ich habe mich immer als männliches Wesen gefühlt. Und je älter ich werde...«
»Sie haben Brüste.«
»Ja.«
»Vermutlich menstruieren Sie auch?«
»Nein.«
»Sie wissen, was die Menstruation ist?«
»Ja.« Ich dachte an Lindsey. Lindsey blutete und blutete. Sie war von dem Blutverlust ohnmächtig geworden.
»Sie haben keinen Menstruationszyklus?«
»Nein.«
»Und deshalb glauben Sie, daß Sie kein Mädchen sind?«
»Nein. Nicht deshalb. Ich habe es immer schon geglaubt. Schon mit sechs. Seit der König...«
»Was hat der König denn damit zu tun?«
Ich sah den Arzt an. In einer Diskussion über das Thema »Was macht einen guten Arzt aus?« hätte ich gesagt: »Zum einen Geduld.«
Der Arzt hatte ein Lächeln auf den Lippen, das er zu verbergen suchte. Ich dachte: Ich möchte als Mann nicht so werden wie er; er ist widerlich.
Er machte sich auf einem Block ein paar Notizen und sagte, am wichtigsten sei jetzt erst einmal zu klären, warum meine Periode nicht eingesetzt habe. Ich erwiderte, der Grund sei, daß ich keine Gebärmutter habe. Er schüttelte den Kopf.
Der Arzt entnahm meinem Arm eine Blutprobe. Er bat mich, ihm meine Brüste zu zeigen, die ich noch immer bandagierte. Ich wickelte die elastische Binde ab. Es war eiskalt im Sprechzimmer. Lindsey hatte mir erzählt, daß ihr Schatz Ranulf beim bloßen Anblick ihres Busens die Kontrolle über sich verloren hätte, doch nicht so dieser Arzt beim Anblick des meinen. Er sah weg, worüber ich froh war. Ich hatte nur noch den Wunsch, gehen zu dürfen.
Ich wandte mich gerade zur Tür, als der Arzt sagte: »Warten Sie einen Augenblick. Ich gebe Ihnen noch ein Rezept.«
»Wofür?« fragte ich.
»Für ein paar Tabletten. Die müßten Ihre Blutung herbeiführen. Ihre fixe Idee hängt wahrscheinlich mit Hormonmangel zusammen. Wenn Sie erst Ihren Zyklus haben, wird sich das bestimmt geben.«
Ich nahm das Rezept und ging. Ich sagte nicht: Danke, Herr Doktor, sondern ging einfach ohne ein Wort aus dem Zimmer.
Auf der Hauptstraße von Swaithey setzte ich mich neben dem Pferdetrog auf eine Bank. Ich zerriß das Rezept und streute die Schnipsel ins Wasser, wo sie wie Blütenblätter auf der Oberfläche schwammen. Ich dachte: Die Medizin hat aus mir einen Schmutzfinken gemacht.
Später dann, als es Sommer geworden war und ich eine Einladung zu Lindseys Hochzeit bekommen hatte, besuchte ich Edward Harker. Im Dorf war Reiterfest. Pearl spielte hin undwieder Pony. Dann schnaubte und wieherte sie und warf ihre zitronengelbe Mähne zurück. Sie nahm Billy auf die Schultern und erlaubte ihm, sie mit einem Weidenstöckchen auf den Arm zu schlagen. Daher wußte ich, daß Pearl, Billy und Irene beim Reiterfest sein würden und Edward, der unter Heuschnupfen litt, wahrscheinlich allein im Keller war.
Mein Arztbesuch hatte mir gezeigt, daß es gar nicht so schwer war, wie ich immer geglaubt hatte, jemandem von mir zu erzählen. Ich brauchte nur ein paar Worte zu sagen, und schon war es geschehen, vorbei. Wenn man einmal davon absah, daß es eben nicht vorbei war, weil meinen Worten kein Glauben geschenkt wurde. Ich hätte ebensogut erklären können: »Ich bin die Jungfrau Maria.« Der Arzt nahm an, daß ich unter einer fixen Idee litt. Meine Mutter hatte mir von einer Freundin im Mountview erzählt, die sich für ein Huhn hielt. Deshalb war die Frau dort eingesperrt. Niemand sah nach, ob sie Federn hatte. Niemand bot ihr einen Wurm an. Ich zog in Erwägung, ihr zu schreiben: Dieses Land fürchtet sich vor dem Ungewöhnlichen. Doch dann stellte ich fest, daß mir der Gedanke, an ein Huhn zu schreiben, nicht sonderlich behagte. Ich war genauso engstirnig wie die anderen.
So begann mich die Frage zu quälen, wer mir glauben würde. Ich reihte sie wie bei einer Gegenüberstellung vor meinem geistigen Auge auf, alle, die ich kannte, ging langsam an ihnen vorbei und sagte es einem nach dem andern. Nur mein Vater war
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