Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
Wirklichkeit?
Sonny hatte Probleme mit dem Gedächtnis.
Er dachte: Es gibt Lücken in den vergangenen Jahren. Zwischenräume mit nichts darinnen.
Estelle sagte zu ihm: »Bringt der Alkohol dein Gehirn zum Erweichen, Sonny, oder was ist los?«
Doch er konnte nicht aufhören zu trinken. Der Alkohol war jetzt fast das einzige Vergnügen, das ihm noch geblieben war. Er hatte für England ein halbes Ohr verloren. England schuldete ihm etwas, wenigstens ein paar Gläschen jeden Abend. Verflixt noch mal, wie John Wayne sagen würde. Deralte John Wayne hatte seinen Black and White getrunken und war auf schwarzweißen Pferden durch die schwarzweiße Landschaft geritten; Sonny war sicher, daß John Wayne keine Löcher in seiner Vergangenheit gehabt hatte, aber er hatte ja auch immer ein paar schwarze und weiße Frauen zum Küssen gehabt, die mit ihm in die Zukunft ritten. Verflixt noch mal.
Eines Morgens ging er hinaus, um die Hühner zu füttern. Er war allein. Timmy hatte kein Interesse mehr daran. Und Sonny sah alle Hühner vollkommen still, ohne sich auch nur ein bißchen zu rühren, auf dem Feld stehen. Sie schauten wie Lockvögel aus. Sonny dachte: Sehe ich das wirklich?
Er verhielt sich zunächst ganz ruhig, bewegte sich nicht. Dann stellte er den Eimer mit den Körnern hin. Es war früh am Tag, und die Sonne stand noch tief, so daß die Hühnerställe lange Schatten warfen. Sonny hatte Kopfschmerzen und hätte sich am liebsten da, wo er war, hingelegt, mitten auf dem Stoppelfeld.
Statt dessen setzte er sich nieder. Der Boden unter ihm war hart und stachlig. Er langte in den Eimer, um zu sehen, ob die Körner noch da waren. Die Hühner standen unter Schock, jedenfalls sah es so aus.
Sonny fragte sich, ob in der Nacht ein Fuchs gekommen war und sie terrorisiert hatte. Doch es roch nicht nach Fuchs.
Dann wußte er, was geschehen war. Die Hühner waren verhext worden. Es war ihm auf einmal ganz klar. Mary tauchte vor seinem geistigen Auge auf, wie sie in dem dunklen Häuschen, wo sie mit der schottischen Lehrerin wohnte, das Zaubern übte. Sie hatte inzwischen Fortschritte gemacht und war vom Zaubern zur richtigen, tödlichen Magie gelangt. Sie nahm Rache an ihm. Mary war es, die dem Hof Verderben brachte.
Sonny erhob sich. Er fühlte sich steif in den Kniegelenken. Er nahm den Eimer und verteilte ein paar Handvoll Körner, doch die Hühner schienen das nicht zu bemerken und standen weiterhin stocksteif da und blickten, wie Hühner auf einem Gemälde, in die Landschaft.
Er wußte, daß er gewisse Schritte unternehmen mußte, gewisse Schritte, wie sie ein Mann mit einem richtigen Gedächtnis unternehmen würde, doch ihm fiel nicht ein, welche das waren. Er sehnte sich danach, auf der Stelle ein bittersüßes dunkles Bier zu kippen und damit seinen Durst zu stillen, den er wegen der ihm feindlich gesonnenen trockenen Winde ständig zu haben schien.
Sein nächster Gedanke war: Ich sollte besser zu diesem Loch von einem Häuschen gehen und es besuchen, dieses Hexenkind, ihm sagen, daß ich weiß, was gespielt wird. Ich sollte zu Mary sagen, daß ich sie einsperre, wenn sie nicht aufhört, mein Land mit Flüchen zu belegen. Ich sollte ihr Angst einjagen, ihr ins Gedächtnis rufen, daß ich ihr Vater bin. Mir verdankt sie ihr Leben, und ich habe immer noch Macht über sie – auch die Macht, ihr dieses Leben wieder zu nehmen.
Verflixt noch mal.
Er ging nicht an jenem Tag. An jenem Tag tat er gar nichts und erzählte auch Estelle nichts von Hühnern und der Hexerei. Das kam daher, daß sich Estelle seit einiger Zeit ihm gegenüber anders verhielt und er wollte, daß dies so blieb. Er bildete sich das nicht ein. Ihr Benehmen ihm gegenüber hatte sich verändert.
Sie bat ihn, mit ihr zu schlafen. Sie hob ihr Nachthemd hoch. Doch küssen durfte er sie nicht. Er sehnte sich danach, sie auf den Mund zu küssen, doch das ließ sie nicht zu. Sie erlaubte ihm aber, mit der Hand über ihr Haar zu streichen und dann auf ihr zu liegen und sich in ihr zu ergießen. Sie selbst hatte kein Vergnügen daran. Sie lag mit geschlossenen Augen und abgewandtem Mund da, aber wenigstens ließ sie ihn das tun, forderte ihn sogar auf , es zu tun. »Heute abend ist es günstig«, sagte sie, »du kannst es also tun, Sonny. Ich möchte, daß du es tust.«
So stieg das alte Verlangen nach ihr wieder in ihm auf. Solange er nicht auf ihre Füße schaute, die einst schön, im Laufeder Jahre aber häßlich und knotig geworden waren, konnte er
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